Lied aus der Vergangenheit
Zeiten kommen, schließt die Reihen‹«, sagt sie mit einem Südstaatenakzent, der streng genommen fehl am Platz ist, aber doch irgendwie passt. Sie hat Sargassomeer viermal gelesen, Jane Eyre dafür, dessen Prequel Jean Rhys’ Roman darstellt, nicht ein einziges Mal. Er nimmt sich fest vor, das Buch zu kaufen und ihr zu schenken, obwohl er keine Ahnung hat, wo sich in dieser Stadt ein viktorianischer Roman auftreiben ließe. Er speichert sie im Geist, diese künftigen Geschenke, Momente, die in die Zukunft fortgesponnen werden sollen. Er beugt sich vor und legt ihr die Hand flach auf den Bauch. Er meint, das Kind darin zu spüren, auch wenn es lediglich der Schatten ihres Herzschlags ist.
Einmal hat sie ihm etwas geschenkt. Ein Miniaturfläschchen voll Indigopigment, das sie vor langer Zeit auf einem Markt entdeckt hatte. Das Fläschchen hatte sie angezogen: winzig, mit Blei versiegelt, noch nie geöffnet. Er trägt es an einer Schnur um den Hals, in der Brusttasche seines Hemdes. Wenn er hinfallen sollte, sagt er sich, werden sich die Glassplitter in sein Herz bohren.
Meistens kommt die Angst nachts. Er steht aus dem Bett auf und wandert durch das leere Haus. Der Strom kommt und geht, er muss also entweder eine Kerze anzünden oder sich mit dem Mondlicht begnügen. In diesen dunklen Augenblicken vergegenwärtigt er sich, wie viel er geopfert hat, er denkt an Kate und Lisa, daran, was im schlimmsten Fall passieren könnte, dass ein solches Glück nicht von Dauer sein kann. Er geht von Zimmer zu Zimmer und dann wieder zurück, zählt Schritte, zählt Sekunden. Wenn er wieder neben ihr ins Bett schlüpft, duckt sich die Angst, zieht den Kopf ein.
Eines Nachts träumt er, dass er sie verloren hat, und wacht gepeinigt auf. Ihre Seite des Betts ist leer. Als er sie hinterm Haus findet, wo sie sich mit einer Nachbarin unterhält, mischt sich in seine Erleichterung absurderweise eine ebenso große Wut darüber, dass sie ihn während seines Albtraums alleingelassen hat.
Er beobachtet sie in der Hoffnung, eine Ahnung davon zu bekommen, was sie empfindet. Er sieht ihre Freude über sein Erscheinen, über seine Umarmung, über seine kleinen Geschenke und Komplimente. Angst sieht er keine. Und er fragt sich: Kann es denn sein? Vielleicht liebt sie ihn nicht. Denn sie hat es niemals gesagt und spricht nach wie vor nicht über die Zukunft.
Am Montag, in drei Tagen, ist er mit Elias Cole verabredet. Seit er wieder im Land ist, hat er den alten Mann zweimal gesehen, aber beide Male war nichts von Bedeutung zur Sprache gekommen. Cole liegt im Sterben. Während Adrians Abwesenheit hat sich sein Zustand abermals verschlechtert, der Sauerstoffkonzentrator steht wieder in seinem Zimmer, für das letzte Stück des Weges. Es ist zu keiner Aussöhnung mit Mamakay gekommen, wofür Adrian sich persönlich verantwortlich fühlt. Es bedeutete eine Enttäuschung für ihn, als Cole darauf verzichtete, nach ihm zu rufen. Mittlerweile ist es Adrian ein echtes Anliegen, der Sache – Elias Cole – auf den Grund zu gehen.
An dem Abend holt Adrian, zum ersten Mal seit vielen Wochen wieder, Zeichenblock und Bleistift hervor und fängt an zu zeichnen. Er zeichnet die Flughunde, die im Baum im Garten ihres neuen Hauses sitzen. Eine halbe Stunde lang bemüht er sich, mit einem weichen Bleistift ihre Erscheinung einzufangen: die intensive Dunkelheit ihrer Gesichter, den Glanz ihrer Augen und kleinen Zähne, die Eleganz und Zerbrechlichkeit ihrer Flügel. Er geht mit einer Taschenlampe ganz nah an sie heran, und sie scheinen sich überhaupt nicht an ihm zu stören. An einen der Flughunde klammert sich ein Junges. Nach und nach entdeckt er Unterschiede zwischen den Tieren, in Wesen und Gesichtszügen. Nach einer Weile sichtet er das Ergebnis seiner Arbeit. Es sind mehrere Zeichnungen. Die erste ist eine Studie des Kopfes eines Flughunds. Die zweite ein Bildnis der Mutter mit ihrem Baby. Eine dritte zeigt einen ausgebreiteten Flügel: hauchdünne matte Haut, gespannte Kanten und anmutige Spitzen. Es erscheint ihm unvorstellbar, dass er diese Geschöpfe je hässlich gefunden haben kann. Sie sind ganz einfach schön.
»Das gefällt mir.« Mamakay hat sich von hinten an ihn herangeschlichen und legt ihm die Hände auf die Schultern. »Kann ich mal sehen?«
Er hält ihr den Zeichenblock hin.
»Kann ich die haben?«, fragt sie.
»Natürlich.« Er nimmt den Zeichenblock und reißt das Blatt heraus. Mamakay verschwindet und kehrt mit einem leeren
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