Lied aus der Vergangenheit
sich?«, fragt er. »Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Keine Beschwerden?«
»Überhaupt keine.«
Der Arzt unterzeichnet ein mit Schreibmaschine ausgefülltes Formular und gibt es Kai.
»Das war’s?«, fragt Kai.
»Was wollen Sie noch?« Der Arzt zuckt die Achseln.
Kai steht auf. Der Arzt begleitet ihn zur Tür und ruft den nächsten Patienten auf.
Draußen winkt Kai ein Taxi heran. Die Zeit ist knapp. Ein Wagen hält, Kai erkundigt sich beim Fahrer nach der Route und quetscht sich dann neben die anderen Fahrgäste. An der US-Botschaft steigt er aus, betritt das Gebäude, sagt zum Marinesoldaten: »Miss Fernandez Mount, bitte.«
52
Die Regenzeit ist vorbei, wie vom Himmel gewischt. Adrian verspürt eine tiefe Erleichterung. Die rote Schlickfahne vor der Bucht hat sich verzogen. Der Verkehr fließt wieder schneller, die Menschen gehen langsamer. Heute sind die Patienten draußen in der Sonne und harken das frisch geschnittene Gras zusammen, acht Mann in einer Reihe, aus der Hüfte gebückt. Von seinem Zimmer aus beobachtet Adrian, wie Salia, die Arme verschränkt, die Beine breit, die weiße Uniform fleckenlos, sie beaufsichtigt. In dem Moment schaut Salia auf, sieht Adrian und hebt die Hand zum Gruß. Adrian winkt zurück. Er wendet sich vom Fenster ab.
Irgendwo da draußen in dieser Stadt ist Mamakay. Was macht sie gerade? Er stellt sie sich im Gedränge des Markts vor, wie sie die Stände nach Schnäppchen absucht. Jeden Morgen redet er ihr zu, das Geld auszugeben, das er ihr für die Einrichtung des Hauses gegeben hat. Doch sie geht langsam und widerwillig vor, und Adrian lässt ihr Zeit und wartet, so wie er es inzwischen gelernt hat, halb abgewandt, wie ein Pferdeflüsterer.
Er ist glücklich. Das neue Haus, bescheiden, weiß getüncht, aber mit guten Fußböden und einem kleinen Garten, haben sie vor drei Wochen zu einem bescheidenen Mietzins bekommen. Der rückwärtige Balkon blickt auf die Mündung eines kleinen Flusses. Adrian machte sich Sorgen wegen möglicher Mücken, aber Mamakay hat ihm versichert, es würde da keine geben, und in dem Punkt hat sie recht behalten.
Er ist glücklich. Jeden Morgen wacht er auf und lässt die Tatsache seines neuen Lebens in sich einsinken. Mittwoch vor einer Woche hat er vor einem Supermarkt den tauben Jungen wiedergesehen, den Jungen, den er zuerst auf der Polizeiwache, mit Gott weiß welcher Begründung festgenommen, gesehen hatte. Der Junge erkannte ihn wieder. Adrian gab ihm eine Münze. Der Junge presste sich die Finger beider Hände an die Lippen, winkte und lächelte. Adrian sah ihm nach, wie er zu seinen Freunden zurück lief. Bei ihrer ersten Begegnung war Adrian ein anderer Mensch gewesen. Er spürt dies so intensiv, dass er sich regelrecht fragt, wie der Junge ihn überhaupt wiedererkennen konnte.
Er ist glücklich. Außer in den Augenblicken, in denen er an Kate und Lisa denkt; da schießt ihm sein schlechtes Gewissen, heiß wie ein Stromschlag, durch den Körper. Dann schaut er in den Spiegel und sieht die Spuren von Grau, die schon seit Jahren sein Haar durchziehen, die zwei senkrechten Falten zwischen den Augenbrauen. Er fragt sich, wie es sein kann, dass er tut, was er tut. Zu diesen Gelegenheiten versteckt er sich vor Mamakay aus Angst, dass sie sieht, was er sieht – dass er sie nicht verdient.
Abends lesen er und Mamakay, vertreiben sich auf notgedrungen bescheidene Weise die Zeit. Sie unterhalten sich und spielen Karten. Einmal hat Mamakay ein Ludobrett hervorgeholt, worauf Adrian sofort an Kai denken musste. Er sah Kais Gesicht vor sich, seinen schütteren Bart, zu jugendlich noch, um zu einem richtigen Vollbart zusammenzuwachsen. Eifersucht wie ein Natternbiss in Adrians Herz. Aus welchem Grund auch immer behauptete er, die Spielregeln nicht zu kennen. Er benutzte es als Ausrede, um nicht spielen zu müssen.
Letzten Abend lag sie auf dem Rücken und hörte zu, während er ihr aus einem Buch vorlas und dabei mit langsamen kreisförmigen Bewegungen Duftöl auf dem Bauch einmassierte. Von draußen drangen die Geräusche der Moschee herein, des Fußballspiels, das im Videocenter übertragen wurde. Wie ein Kind kann sie dieselbe Geschichte immer wieder hören, doch anders als bei einem Kind kann es vorkommen, dass sie ihm das Taschenbuch aus der Hand nimmt und eine Passage selbst vorliest, mit mehr Ausdruck als er. Sie hat eine Begabung dafür. Wie ein Kind kann sie ganze Passagen der Geschichte auswendig. »›Es heißt: Wenn schlechte
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