Lied aus der Vergangenheit
übrigen drei haben’s geschafft. Die Chefin der chirurgischen Abteilung hat mich zu sich gebeten und mir gratuliert. Na, wie findest Du das?
Die wirklich schlechte Nachricht ist, dass Helena und ich uns getrennt haben. Hat sich wohl schon eine ganze Weile abgezeichnet. Und jetzt ist es passiert. Keine großen Dramen, keine Kräche. Jetzt sucht sie nach einer neuen Bleibe. Bis sie was hat, schlafe ich meistens im Krankenhaus. Ich könnte die Wohnung zwar behalten, aber wahrscheinlich wäre es nicht ratsam. Wir haben eine schöne Zeit miteinander verlebt. Sie wird mir fehlen.
Das wär’s fürs Erste.
Mach’s gut, Mann,
T.
PS: Wenn ich von hier aus irgendetwas für Dich tun kann, lass es mich wissen.
Und der letzte Brief:
Lieber Kai,
ich hab das Gefühl, ich müsste diese Briefe eigentlich mit »Liebes Tagebuch« oder so beginnen, denn es kommt mir so vor, als ob du der einzige Mensch bist, mit dem ich rede. Das meine ich nicht wörtlich, denn ich rede den ganzen Tag mit Leuten. Und ich meine damit nicht, ich hätte überhaupt keine Freunde. Es ist bloß: Es gibt Reden und Reden. Du weißt, was ich meine, ja? Nein, natürlich nicht. Du warst immer der Schweigsame, der die Frauen verrückt macht. Ich war derjenige, der sich auf seine Sprüche was einbildete, aber am Ende sind die Mädchen immer auf dich abgefahren.
Ich hab vergessen, mich nach Abass zu erkundigen. Deinem kleinen Cousin. Wie geht’s ihm? Er müsste ja jetzt bald acht sein. Scheiße! Ich glaub’s ja nicht. Sag ihm »Hi« von mir. Grüß seine Mutter von mir.
Wenn Du hier bist, sollten wir nach Kanada fahren und Deine Schwester und Deine Eltern besuchen. Ich hätte selbst schon längst rauffahren sollen, aber wegen dieser Prüfungsvorbereitungen hatte ich einfach keine Zeit. Wir könnten uns einen Mietwagen nehmen. Das möchte ich schon die ganze Zeit machen. Die Niagarafälle sehen. Hey, was glaubst du, wie die im Vergleich zu unserem eigenen Wasserfall zu Hause abschneiden würden? War immer schön da. Es gibt anscheinend Leute, die sich in Fässern die Fälle runterstürzen. Ist echt wahr, mein Freund, mein Wort darauf. Ich verscheißer Dich nicht. Und wusstest Du, dass diese Wasserfälle im Winter zufrieren? Ich hab angefangen, unsere Reise zu planen, und da habe ich ein Foto von 1911 gesehen. Von oben bis unten zugefroren, die ganze Chose. Da waren Leute, die auf dem Eis spazieren gingen. Vielleicht sollten wir besser im Sommer hinfahren. Ich muss lachen, wenn ich daran denke, wie aufgeregt ich war, als es zum ersten Mal geschneit hat. Ich hab einen Topf davon gesammelt und im Kühlschrank aufbewahrt.
Eigentlich bin ich noch nicht viel gereist. Anfangs war das Geld knapp. Außerdem war meine Bewegungsfreiheit – wegen der Art, wie ich in die Staaten eingereist bin – ziemlich eingeschränkt. Aber für dich wird’s anders sein. Also sitz ich hier und warte, mein Freund. Schon in der näheren Umgebung gibt’s jede Menge zu sehen. Mann, in den ersten paar Monaten sind mir schier die Augen aus dem Kopf gefallen! Zurzeit geh ich nicht viel aus, aber zusammen können wir ein paar Nächte um die Häuser ziehen.
Ich sitz hier und frag mich, warum ich so lang nichts von Dir gehört habe. Klingel mich an, und ich kann dich zurückrufen. Oder sag mir, wann eine günstige Zeit zum Anrufen wäre. Es ist teuer, ich weiß. Mach Dir ums Geld keinen Kopf, ich ruf Dich an. Sobald Du diesen Brief hast. Wär schön, Deine Stimme zu hören.
Mach’s gut, Mann,
Tejani
Drei Mal hat Andrea Fernandez Mount schon geschrieben, um Kai daran zu erinnern, dass er sich noch durchchecken lassen musste, da ein Gesundheitszeugnis die letzte verbleibende Hürde vor seiner Einreise in die Vereinigten Staaten sei. Sie hat ihm außerdem mitgeteilt, dass er die Sprachprüfung bestanden hat. Aha, hatte er bei sich gedacht, dann konnte er also tatsächlich Englisch sprechen. Na, das war doch gut zu wissen. Kai faltete die Briefe zu einem Boot, einem Flugzeug und einer Ananas und stellte sie auf der Fensterbank seines Schlafzimmers auf.
»Mansaray.«
Kai legt Tejanis Briefe entlang ihren alten, schon angeschmutzten Falten zusammen, steckt sie in seine Gesäßtasche und folgt dem Arzt ins Sprechzimmer. Der Arzt ist ein Mann gut Mitte fünfzig, grauhaarig, würdevoll und müde. Er liest den Brief, den Kai der Schwester ausgehändigt hat. Falls der Inhalt ihn überrascht, lässt er es sich nicht anmerken.
»Nehmen Sie Platz.«
Kai setzt sich.
»Wie fühlen Sie
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