Lied aus der Vergangenheit
ihn schon einmal gesehen.«
Cole nickt langsam. Er denkt die ganze Zeit nach, bewegt dabei die Finger der rechten Hand, immer wieder einen nach dem anderen, wie die Falten eines Fächers. Adrian kann beinah hören, wie es in seinem Gehirn rattert. Er schaut weg.
»Es war eine gesellschaftliche Beziehung«, sagt Cole schließlich. »Wir tranken Whisky miteinander. Wie ich mich erinnere, hatte er eine Schwäche für Black Label. Es kostete mich ein Vermögen. Wir erörterten den Zustand des Landes. Mittlerweile war ich Dekan. Es war wichtig, eine Vorstellung davon zu haben, was vor sich ging.«
»Können Sie nachvollziehen, dass das einem Außenstehenden merkwürdig erscheinen muss? In Anbetracht dessen, was Sie mir über ihn erzählt haben, über die Gefühle, die Sie ihm entgegenbrachten?«
Cole fächert die Finger auseinander und ballt sie dann zur Faust. Sein Ton hat sich kaum merklich verändert. Adrian hört aufmerksam hin, versucht, dieses Anderssein zu bestimmen, doch es gelingt ihm nicht.
»Wie Sie so richtig feststellen, sind Sie ein Außenseiter. Das hier ist ein kleines Land. Sie haben noch nie an einem solchen Ort gelebt. Hier sind Feinde ein Luxus, den sich nur Arme leisten können. Wir anderen müssen derlei hinter uns lassen – um Ihre Terminologie zu gebrauchen. Ich habe meinen Frieden mit der Macht gemacht. Ich hatte keine andere Wahl.« Er bedenkt Adrian mit einem blassen Lächeln.
»Sie wurden Freunde.«
»Ich würde es vorziehen, ›Bekannte‹ zu sagen.«
»Wie kam es dazu? Ich meine, wie kam es dazu, dass Sie Ihre Bekanntschaft mit ihm erneuerten?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, er suchte mich bei mir zu Hause auf. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«
»Bisweilen kommt es vor, dass Menschen durch bestimmte Ereignisse zusammengeführt werden. Durch Dinge, die sie auf merkwürdige Weise aneinander binden.« Johnson war ehrgeizig und gescheit, doch er besaß keinen wirklich erstklassigen Verstand, eine Tatsache, die er hinter Streitlust und gespieltem Stumpfsinn verbarg. Falls Cole die Ähnlichkeit zwischen sich und Johnson wirklich nicht sah – Adrian entging sie nicht. Ja, sie sprang ihm geradezu ins Auge. Projektion? Vielleicht. Andererseits war es nie ratsam, bei derlei Dingen vorschnell zu urteilen. Johnson konnte ohne Weiteres genau so sein, wie Cole ihn schilderte. Schon mehrfach hatte Adrian sich gefragt, ob die Beziehung zu Johnson nicht doch tieferer Natur war, als Cole zugab.
Cole runzelt die Stirn. »Er war ein Bekannter. Nichts weiter.«
»Wer gab Johnson die Liste mit den Studenten? Waren Sie das?«
Coles Gesicht zeigt keine Regung – oder fast keine: Adrian sieht, wie sich das Licht in seinen Augen verändert, ein Wangenmuskel zuckt. Ansonsten betrachtet er Adrian mit vollkommen ausdrucksleerer Miene.
»Was glauben Sie, über diese Dinge zu wissen?«
»Ich weiß nur das, was Sie und Ihre Tochter mir gesagt haben. So wie sie es sieht, haben Sie in der Nacht des Überfalls auf den Campus ihre Freunde verraten. Sie haben sie Johnson ausgeliefert.«
Diesmal dauert das Schweigen länger an. Cole schüttelt den Kopf. Er scheint die Fassung so schnell wiedergewonnen zu haben, dass Adrian jetzt kurz unsicher ist, ob er sie überhaupt verloren hat. Er sagt: »Das ist, was sie glaubt.«
Cole schüttelt weiter den Kopf, bis die Bewegung einen leichten Hustenanfall auslöst. Er stemmt sich mit spitz nach außen gewinkelten Ellbogen hoch, hebt den Kopf, atmet tief ein, dann wieder aus und schließt die Augen.
»Könnten Sie bitte Babagaleh rufen?«
Adrian kommt dem nach. Er folgt Babagaleh nicht wieder ins Zimmer, sondern wartet auf dem Korridor, den Rücken gegen die körnige nackte Betonwand gelehnt. Durch die Tür hört er Bewegungen, das Murmeln des Sauerstoffkonzentrators, flüsternde Stimmen. Was sie sagen, kann er nicht verstehen. Eine Viertelstunde verstreicht. Adrian wartet. Sein Gespräch mit Cole muss beendet, zu einem Abschluss gebracht werden, wie auch immer er aussehen mag. Cole wird müde. Die Veränderung, die Adrian in seiner Stimme bemerkte, als er ins Zimmer trat, hinter dem Rasseln der steif gewordenen Lungen, der angespannten und trockenen Stimmbänder – Coles Kräfte gehen zur Neige.
Die Tür öffnet sich, und Babagaleh tritt auf den Korridor, nickt Adrian zu, der die Tür weiter aufstößt. Cole liegt auf seinem Kissen, weitgehend so, wie Adrian ihn verlassen hat, mit geschlossenen Augen.
Wir alle müssen mit den Auswirkungen unserer
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