Lied aus der Vergangenheit
Polizeiwache.«
Adrian nickt, holt sein Notizheft und einen Stift heraus. Unter den Augen der Polizistin geht er im Kreis um das Kind herum und kritzelt dabei Notizen, bis er sieht, dass sie das Interesse verliert und anfängt, ihre lackierten Nägel zu betrachten. Dann stellt er sich hinter den Jungen, lässt sein Notizheft fallen und stößt dabei einen lauten Fluch aus. Die Polizistin fährt zusammen. Das Kind rührt sich nicht.
Das Kind ist zurückgeblieben, erklärt Adrian dem wachhabenden Beamten. Der Polizist will wissen, was er mit dem Jungen jetzt tun soll. Etwas an seinem Verhalten gibt zu verstehen, dass es ohne Adrian das Problem gar nicht gäbe. Also sagt Adrian, er möge das Kind in seine Obhut geben, und zeichnet den Papierkram ab, als habe er das schon unzählige Male getan. Jede Menge Stempel und Gegenzeichnungen, und man führt ihn zur Tür.
Minuten später steht er, Hand in Hand mit dem Jungen, vor der Polizeiwache. Sein Herz klopft. Seine Achselhöhlen sind feucht, der Schweiß wie Eiswasser. Er hat keine rechte Vorstellung, was er mit dem Jungen tun soll, er konnte es schlicht nicht über sich bringen, ihn dort zu lassen. Plötzlich reißt sich das Kind los und flitzt in den Verkehr. Bevor Adrian auch nur daran denken kann, ihm nachzulaufen, ist es verschwunden. Adrian dreht sich um und schaut zur Polizeiwache, aber niemand scheint was gesehen zu haben.
Vier Leute sitzen zusammengequetscht im Fond des Taxis auf dem Weg zum Krankenhaus. Die Frau neben ihm hat einen Korb mit irgendeinem fermentierten Lebensmittel dabei; der hefige Geruch mischt sich mit ihrem eigenen und dem ihres Parfüms. Adrian ist es bislang nicht gelungen, die alchemistische Verbindung von Wörtern und Fahrpreis zu ermitteln, die es ihm erlauben würde, ein Taxi ganz für sich allein zu bekommen.
Im Krankenhaus ist der Aufenthaltsraum menschenleer. Auf dem Zweiplattenherd köchelt in einem langstieligen Stahltopf Kaffee. Die Blasen steigen an die Oberfläche und platzen wie Lava. Adrian findet den am wenigsten schmutzigen Becher und spült ihn aus. Der Kaffee schmeckt sandig und bitter, erinnert ihn an den »Spielkaffee«, den er als Kind aus Eicheln braute. Er belegt seine Zunge und macht seinen Speichel sauer.
In dieser Hitze fühlt er sich wie ein Schlafwandler. Seine Bewegungen sind bemüht, er spürt die schwerfälligen Funktionen seines Gehirns. Er lehnt sich zurück und wartet darauf, dass das Koffein in seinem Organismus einschlägt, die Nervenenden zitternd zum Leben erwachen und seine Haut prickeln lassen.
Gerade jetzt hätte er Lust, mit jemandem zu reden, aber mit wem? Wieder am Schreibtisch, wählt er seine Telefonnummer zu Hause, lauscht dem Klingelzeichen, das hohl in der Leitung hallt. Er zählt. Ein Klick, und Lisas Stimme meldet sich. Er hört zu, wie ihre frische, muntere Stimme den Anrufer bittet, Namen und Nummer zu hinterlassen. Er legt wieder auf, ohne etwas gesagt zu haben. Was hätte er ihr denn überhaupt erzählt? Für Lisa waren fremde Länder ebenso unfassbar und fern wie die Venus. Das Weltgeschehen spielte sich ohne jegliches menschliche Zutun ab. Kriege, Staatsstreiche, Armut – derlei Dinge existierten auf einer Ebene mit Viren, Zyklonen und schwarzen Löchern im Weltall. Mit Emotionen ging man sparsam um. Er hätte ihr von dem tauben Jungen auf der Polizeiwache erzählen können, der anschließenden Pause gewärtig, der geschickten Überleitung zu einem positiveren, verständlicheren Thema. Sie hatte ihn anfangs angezogen, wieder zu sich selbst zurückgeführt, ihre fröhliche, optimistische Art. Er hatte sie anfangs für ein Zeichen von Weichherzigkeit, von Verletzlichkeit gehalten.
Später duscht er. Wie er unter dem Wasserstrahl steht, verspürt er Harndrang. Er tritt an den Rand der gekachelten Duschkabine und zielt in die Kloschüssel. Der Volltreffer verschafft ihm – zum ersten Mal an diesem Tag – das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Die erfrischende Wirkung der Dusche hält nicht lange vor. Schon bald gewinnt die Hitze wieder die Oberhand, legt sich auf seine Haut und macht sie klebrig. In der Küche nimmt er eine Bestandsaufnahme des Kühlschrankinhalts vor, holt eine Büchse Kondensmilch heraus, hält sie in die Höhe und lässt sich die Flüssigkeit in den offenen Mund rinnen.
Wie schnell man doch regrediert.
Er macht sich eine Tasse Instantkaffee und füllt sie mit zwei Fingerbreit Whisky auf. Worauf er wirklich Lust hätte, wäre eine Flasche Wein. Der
Weitere Kostenlose Bücher