Lied aus der Vergangenheit
manchmal weinen. Ich habe einmal einen Blinden auf der Straße gesehen, dem die Tränen über das Gesicht liefen, er war ganz allein. Ich habe lange über ihn nachgedacht; vielleicht ist es auch nur ein Mangel an … Selbstbewusstheit . Ihnen ist nicht bewusst, dass die Leute sie sehen können.«
»Macht das die Sache besser oder schlechter?«
»Ich kann mir nicht helfen, ich glaube, es würde alles leichter sein, wenn wir alle genau das sagten und täten, wonach uns gerade ist.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. »Glauben Sie das wirklich? Das von den Blinden?«
»Ja. Ehrlich.« Sie betrachtete den Blinden, runzelte leicht die Stirn und fügte dann hinzu: »Und natürlich weiß er nicht einmal, dass ich ihn gerade jetzt anschaue.«
Saffia schaute den Blinden an und ich sie.
»Tanzen Sie mit mir«, sagte ich, weil es mein vordringlichster Gedanke war. Solange ich ihn nicht ausgesprochen hatte, konnte ich an nichts anderes denken.
Also tanzten wir. Sie tanzte mit mir, als forderte ihr die Tätigkeit besondere Aufmerksamkeit ab. Oder vielleicht lag es auch nur am Rum, vielleicht war er ihr zu Kopf gestiegen, allerdings mit der Wirkung, dass er sie zur Konzentration zwang, anstatt sie zu entspannen. Ihre Hand auf meiner Schulter. Meine Hand an ihrer Taille. Ich hatte sie für größer gehalten. Zwischen unseren Körpern ein paar Fingerbreit warme Luft. Sie hielt den Blick von mir abgewandt.
Während wir tanzten, versuchte ich, ganz in dem Augenblick zu sein, um ihn mir später vergegenwärtigen zu können. Ich hatte ihn in meiner Hand, und dann war er fort. Ich begleitete sie wieder hinaus auf die Terrasse.
Da war Vanessa. Mund wie eine feuchte Backpflaume, dazu ein Gesichtsausdruck, der den Eindruck erweckte, als wäre die Haut über einen Unterbau aus Granit gespannt. Kein einziges Wort bis nach Hause. Ich erinnere mich, dass Julius einen wortlosen Kommentar abgab, wie es Männerart ist. Ein verstohlener Klaps auf die Schulter beim Abschied. Er schlüpfte auf den Beifahrersitz, neben Saffia, und dabei drohte er mir scherzhaft mit dem Finger, grinste, hob eine Augenbraue und warf Vanessa, dann wieder mir einen Blick zu, als wollte er sagen: »Elias, Sie alter Schlawiner.«
5
Am Donnerstag wird er wegen eines Kindes gerufen. Die Adresse, die man ihm gibt, ist die der Polizeiwache. Drinnen sitzen eine Anzahl Leute nebeneinander auf einer Bank. Durch eine halb offene Tür kann Adrian mehrere Polizeibeamte sehen. An einem Schreibtisch eine Polizistin, eine dicke Frau mit der kunstvollen Frisur einer Ballkönigin. Ein Kollege sitzt auf der Schreibtischkante und unterhält sich mit ihr. Zwei weitere Beamte stehen nahebei. Es ist gelegentliches Lachen zu hören. Adrian lungert draußen herum in der Hoffnung, bemerkt zu werden. Jemand schaut in seine Richtung und dann wieder weg. Er klopft an die Tür. Leise, in gemessenem Takt. Die Frau am Schreibtisch bedeutet ihm mit einer Geste zu warten. Er entfernt sich und lehnt sich gegen die Wand. Als er endlich hineingerufen wird und seinen Namen nennt, geraten sie in Aufregung und entschuldigen sich. Kein Opfer eines Verbrechens also, jemand Wichtiges! Er hätte es doch gleich sagen können.
Adrian folgt der Beamtin, deren einzige Lautäußerung das Geräusch ihrer Uniformhosen ist, die zwischen ihren gigantischen Schenkeln aneinanderreiben. An einer Tür bleibt sie stehen und bedeutet Adrian mit einer Geste einzutreten. Er späht durch das Glas. Ein Kind sitzt allein im leeren Raum.
»Was soll ich tun?«, fragt er.
»Na ja.« Sie zuckt die Achseln, als frage sie sich, wie er dazu kommt, sie das zu fragen. »Die wollen, dass Sie ihn untersuchen.«
Adrian nähert sich dem Jungen und geht vor ihm in die Hocke.
»Wie heißt du?«, fragt er. Der Junge schaut Adrian aus dunklen starren Augen an. Er gibt keine Antwort, aber er wendet auch nicht den Blick ab.
»Wie du heißt!«, bellt die Frau von der Tür aus. Das Geräusch lässt Adrian zusammenfahren. Er dreht sich um und hebt eine Hand, was sie aber nicht weiter beeindruckt. »Ein Idiot.« Und schüttelt den Kopf und schnalzt dabei mit der Zunge. Als Adrian sich wieder umdreht, beobachtet das Kind ihn immer noch. Adrian sieht ihn ein paar Sekunden an. Er fragt sich, was der Junge angestellt haben mag.
»Entschuldigen Sie«, sagt er zur Beamtin, ohne seine Abneigung in der Stimme mitschwingen zu lassen. »Könnten Sie uns einen Augenblick allein lassen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das ist eine
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