Lied aus der Vergangenheit
befriedigende Widerstand des Korkens, die Garantie eines langen, sanft alkoholisch durchglühten Abends. Er setzt sich auf die Couch, nimmt ein Polster von einem der Sessel und schiebt es sich in den Rücken. Doch die Trägheit hält ihn sogar davon ab, zu lesen; stattdessen starrt er auf einen Fleck auf dem Fußboden und nippt an seiner Tasse. Es ist noch nicht ganz acht. Der Abend dehnt sich vor ihm hin wie eine unbeleuchtete Straße.
Es klopft an der Tür. Der Mann von der Wäscherei, der seine Sachen zurückbringt. Beim dritten Klopfen stemmt sich Adrian hoch.
Vor der Tür steht Kai Mansaray, weitgehend so gekleidet wie das vorige Mal, nur hat er diesmal ein mit einer Glasplatte bedecktes hölzernes Spielbrett in der Hand.
»Tut mir leid, ich dachte, es wäre jemand anders.« Adrian tritt beiseite, um ihn hereinzulassen.
»Ach ja? Ein Schuldeneintreiber?« Kai lacht.
»Nein. Nur meine Sachen aus der Wäscherei, das ist alles.«
»Na, wenn das alles ist, worauf Sie sich heute Abend freuen können, dann ist es ja gut, dass ich vorbeigekommen bin.« Er geht weiter und legt das Spielbrett auf den Couchtisch.
Adrian kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt ein Ludobrett gesehen hat. Dasjenige, das Kai auf den Tisch legt, trägt den Geschmack von Tomatensuppe, den Duft von Wachsmalstiften, den Gummi-und-Schweiß-Geruch der Schulsporthalle mit sich. Es ist das Spiel, das er erwachsene Männer auf der Straße hat spielen sehen, auf übergroßen mit Fotos von Fußballern und Schauspielern geschmückten Brettern.
Adrian schenkt Kai einen Whisky ein. Sie machen den Anfang mit einem »Best of Three«. Kai gewinnt mühelos und fordert Adrian zu einem zweiten Satz heraus. Adrian, der Kais Strategie aufmerksam studiert, ein, zwei Dinge durchschaut hat, kann das fünfte und auch das sechste Spiel für sich entscheiden. Sie spielen mit doppelten Farben. Blau und Grün: Kai. Rot und Gelb: Adrian. Adrian streckt den Whisky mit Wasser, damit er länger vorhält. Kai spielt konzentriert. Adrian ist dankbar für die Gesellschaft. In der Küche findet er eine Packung Schokosplitterkekse. Die Kekse sind weich und staubig. Die Schokolade ist geschmolzen, in das Gebäck eingedrungen und wieder hart geworden. Sie essen die Kekse anstelle eines Abendbrots und spülen sich den Geschmack mit Whisky aus dem Mund.
Sechs Sätze später gibt sich Adrian geschlagen und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Die Ereignisse des Vormittags gehen ihm flüchtig wieder durch den Sinn. Einen Moment lang spielt er mit dem Gedanken, von dem tauben Jungen zu erzählen, entscheidet sich dann aber dagegen. Wäre Kai Europäer, wäre es vielleicht eine andere Sache. Eine Unterhaltung zu führen kann hier eine Herausforderung darstellen, die Sprache ist ein stumpferes Werkzeug, jedes Wort ein dumpfer schwarzer Schlag mit einer einzigen Bedeutung. Exakt das zu sagen, was man meint, genau die richtige Frage zu stellen, das ist die Aufgabe. Denn die Schroffheit der Sprache bedeutet nicht, dass die Menschen sagen würden, was sie meinen. Sie ziehen sich vielmehr in die Zwischenräume zurück.
Außerdem genießt er das Gefühl der Selbstvergessenheit, das mehr und mehr in ihn einsickert – eine Wirkung des Whiskys und der angenehmen Eintönigkeit des Brettspiels. Seit seiner Ankunft hat er sich noch nicht annähernd so zufrieden gefühlt wie jetzt. Er schenkt nach. Die Whiskyflasche ist fast leer.
Eine Zeit lang sitzen sie schweigend beieinander. Adrian steht auf und geht auf die Toilette; als er zurückkommt, ist Kai gerade dabei, die Papiere auf dem Beistelltisch durchzusehen. Er tut das mit der größten Selbstverständlichkeit und lässt sich durch Adrians Rückkehr nicht stören. Er zieht ein Blatt heraus.
»Von Ihnen?«
Adrian nickt.
Die Zeichnung, Adrian hat sie am Tag zuvor gemacht, stellt einen Singvogel dar. Kurz nach seiner Ankunft hat er diesen Zeitvertreib aus seiner Schulzeit wiederaufgenommen. In jener flüchtigen Phase des Knabenalters, in der sich die neu erwachende Energie noch in gesunde Bahnen verirrt, hatte Adrian, während seine Freunde Fußballkarten und Briefmarken sammelten, die Vögel gezeichnet, die er vor seinem Fenster sah: Sperlinge, Amseln, Krähen, Drosseln, Rotkehlchen, jeweils zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten und bei unterschiedlicher Witterung, in all ihren verschiedenen Stimmungen und Federkleidern.
Die Vögel hier sind ganz außergewöhnlich, selbst diejenigen, die auf dem Telegrafenmast sitzen, der von
Weitere Kostenlose Bücher