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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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seinem Fenster aus zu sehen ist: Honigsauger, Schmätzerdrosseln, Würger, exotische Eisvogelarten, Schildraben. In der Ferne kreisen Milane und vereinzelte Geier in den Aufwinden über der Stadt. Vögel, von denen er als Dreizehnjähriger nur hätte träumen können. Bei den ersten paar Zeichnungen tastete er sich zögernd vor, krümmte und streckte häufig die Finger, hielt sich dazu an, immer mehr Striche hinzuzufügen, dem Radiergummi zu widerstehen. Nach und nach hat sich seine einstige Geschicklichkeit wieder eingefunden. Er will sich Farben kaufen. Gestern hat er einen Vogel gesehen, dessen Schwungfedern fast fluoreszierend orange waren. Er hätte nie geglaubt, dass es in der Natur eine derartige Farbe gibt.
    Kai legt die Zeichnung wortlos zurück und nimmt ein Foto mit einem grünen Lederrahmen in die Hand, einen von der Art, die sich zusammenklappen lässt, ein Reisefotorahmen. Ein Geschenk von Lisa. »Ihre Frau?«
    »Ja«, erwidert Adrian. »Lisa.«
    Schweigen. Und weil er versucht, nicht zu zeigen, wie sehr ihn Kais unverblümte Art verunsichert – und weil ihm die Vorstellung, ein Gespräch sei ein ununterbrochener Prozess und Pausen müsse man, wie Nacktheit, bedecken, um Peinlichkeit zu vermeiden, seit Langem in Fleisch und Blut übergegangen ist –, fragt Adrian: »Wie lang arbeiten Sie schon hier?«
    Kai stellt Lisas Foto ins Regal zurück. »Vier Jahre. So um den Dreh.«
    »Und davor?«
    »Ein Davor gab es nicht.« Er hält den Kopf schief, um die Titel der Bücher im Regal zu lesen; er kehrt dabei Adrian den Rücken zu, der aber nicht lockerlässt. »Da haben Sie studiert?«
    »Ja.«
    »Natürlich. Und wo haben Sie Medizin studiert?« Adrian erwartet, dass Kai irgendeine ausländische Universität nennt, in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien, vielleicht auch in einem der ehemaligen Ostblockstaaten.
    »Hier.«
    »Ach.«
    »Ja. Einheimischer durch und durch.«
    »Das ganze Studium?«
    Kai nickt.
    »Dann sind Sie also noch nie in Großbritannien gewesen?«
    »Ne.« Kai unterstreicht das Wort mit einem Kopfschütteln, wendet sich ab und stellt sein Glas Whisky auf den Tisch.
    Warum ihn das so überrascht, wüsste Adrian selbst nicht so recht zu sagen, es ist irgendetwas an Kais Art, er bemüht sich, es in Worte zu fassen. »Sind Sie jemals außer Landes gewesen?«
    Kai schüttelt den Kopf. »Wegfahren? Wo wir hier so viel haben?« Er lacht und leert sein Glas.
    Adrian teilt den Rest Whisky auf und lässt die leere Flasche auf dem Tisch stehen. Er nimmt einen kleinen Schluck, dann noch einen, zieht seinen Drink in die Länge. Der Whisky ist ihm zu Kopf gestiegen. Er erinnert sich, dass er nichts Richtiges gegessen hat, und schließt die Augen. Die Schwärze hinter seinen Lidern verflüssigt sich. Er fragt sich, ob ihm nicht möglicherweise leicht übel ist. Er öffnet die Augen, spürt, wie das Licht in seine Netzhaut sticht, bevor seine Pupillen Zeit haben, sich zusammenzuziehen. Jetzt braucht er einen Kaffee. Er steht auf und geht in die kleine Küche, macht sich mit Kessel und Tassen zu schaffen. Es ist später, als er dachte. Draußen verdickt unsichtbarer Staub die Luft. Morgen werden die Hügel über der Stadt nicht mehr zu sehen sein. Er erinnert sich an den Flug über die Sahara, an den Staub, der sich über die Dünen wälzte und an Wucht und Höhe gewann, bis durch die Fenster nichts mehr zu sehen war.
    Als er wieder ins Wohnzimmer kommt, sitzt Kai mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen da. Adrian bleibt mit den zwei Tassen Kaffee in der Hand stehen. Der Anblick eines Schlafenden hat etwas Fesselndes. In der ersten Zeit sah er Lisa oft beim Schlafen zu, ganz aus der Nähe, sodass er ihren Atem an seinem Gesicht spürte. Wenn sie aufwachte, begegneten sich im Aufwachen ihre Augen. Sie erschrak nicht, zuckte nicht zusammen. Und auch mit Fremden, selbst einem Wildfremden im Bus, spürt man einen Abglanz ebendieser Intimität. Irgendetwas in der Freiheit des Blicks, zu schauen, ohne gesehen zu werden, eine gewisse Macht, eine gestohlene Intimität. Kais Haut, matt glänzend und glatt. Unrasiert; die Haare bewachsen sein Gesicht in schütteren vereinzelten Büscheln. Kais Frisur entspricht nicht der gegenwärtigen Mode. Während viele Schwarze ihr Haar kurz scheren oder ihren Kopf glatt rasieren, steht Kais dichtes Haar zwei, drei Fingerbreit hoch.
    Der Bart und das Haar verbergen seine Jugend; er ist viel jünger, denkt Adrian, viel jünger, als er zunächst angenommen hatte.

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