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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Instrumenten besitzen –, nur um ihn zu verlieren, wenn der Server abstürzt oder der Strom ausfällt. Das blaue Aerogramm trägt ein rund zwei Wochen zurückliegendes Datum. Der Postdienst ist unzuverlässig, trotzdem scheint es ihnen beiden so am liebsten zu sein.
    Die Anästhesistin steckt den Kopf durch die Tür.
    »Wir wären so weit.«
    »Ich komme.« Kai legt den Brief auf seine Kleider, schließt den Spind und folgt ihr hinaus.
    Als Erstes arbeiten sie jeden Tag die angesetzten OP s ab, dann vielleicht eine Elektiv- OP und anschließend alles, was an Notfällen eingegangen ist. Sich zu beschäftigen ist die einzige Methode, die er kennt, alles unter Kontrolle zu halten. Wenn er nicht operiert, arbeitet er seine Berichte gewissenhaft auf und trinkt Kaffee oder hilft freiwillig im zweiten OP -Saal mit, wo oft ein Chirurg allein arbeitet. Zu anderen Gelegenheiten schreibt er an Tejani, detaillierte Schilderungen der Eingriffe, die er vorgenommen hat. Im Krankenhaus hat er wenige Freunde. Die afrikanischen Mitarbeiter, zu denen fast sämtliche Pflegekräfte, aber nur wenige Ärzte gehören, haben alle Frau und Kinder. Die westlichen Mitarbeiter leben und verkehren in ihren eigenen Cliquen, die sich meist nach der jeweiligen Muttersprache zusammenfinden, gelegentlich auch nach Alter oder Ethnie. In der Regel bleiben sie nur ein paar Monate, und während dieser Zeit bemüht sich Kai, alles an Wissen aufzuschnappen, was er ihnen nur entlocken kann: von dem schottischen Schmerzexperten, der vorführte, dass Patienten Phantomschmerzen in Gliedmaßen spürten, die sie gar nicht mehr besaßen, den plastischen Chirurgen, die in Viererteams ankamen und zwei Wochen lang rund um die Uhr arbeiteten, dem Augenchirurgen, der zwischen den Krankenhäusern der Stadt und des Landesinneren rotierte und Staroperationen bei laufender Stoppuhr durchführte und, um seine Patienten zu beruhigen, gern witzelte, er könne sogar mit geschlossenen Augen operieren.
    Und wenn Kai schließlich den Tag nicht noch mehr in die Länge ziehen kann, geht er am Aufenthaltsraum vorbei, in dem sich die Ärzte am Ende des Nachmittags einfinden, und macht sich auf den Weg zur leeren Wohnung, von deren Existenz nur wenige wissen. Dort liegt er dann auf dem Sofa, graut sich vor dem Schlaf, sieht immer wieder auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr und zählt die Stunden der Dunkelheit ab. Wenn der Schlaf einmal kommt, kommt er in Schwärmen, begleitet von einem Ansturm von Bildern oder – manchmal lang anhaltenden – Träumen. Oft wacht er schweißgebadet auf. Am Morgen stellt er sich unter die Dusche und wartet, bis er sich wiederhergestellt fühlt, dann macht er sich erneut an die Arbeit.
    Im OP -Saal könnte es sofort losgehen, wäre die Fliege nicht. Mal schwebt sie über den Leuchten, mal sitzt sie auf dem Fensterrahmen. Eine Schwester mit Mundschutz schlägt mit einem Tuch nach ihr. Irgendein Witzbold hat an die Tür des OP s ein Schild angebracht: Fliegenverbotszone . Kai wartet, während man sich bemüht, das Insekt zu entfernen. In den Regalen stapeln sich Flaschen von Kochsalzlösung, Packungen von Verbandwatte, Kathetern, Infusionsschläuchen, geflochtener Seide, Nadeln, Kunststofffäden und Latexhandschuhen. Unvorstellbar noch vor ein paar Jahren. Er denkt an Tejani.
    Einmal, als Studenten, fuhren sie zu einer Stadt im Landesinneren, um einen Arzt zu besuchen, der das Lassafieber erforschte. Der Mann und seine Arbeit hatten in der Studentenschaft mythischen Status erlangt. Weit verbreitet war das Fieber nur in ländlichen Gebieten Westafrikas. Daher hatte bislang keine Arzneimittelfirma Interesse gezeigt, ein Projekt zur Entwicklung eines Heilmittels zu finanzieren – und das, obwohl das von Rattenharn übertragene Virus bereits 1969 identifiziert worden war. Die Krankheit begann mit Kopfschmerzen und endete mit Blutungen aus allen Körperöffnungen und dem Tod. Manche behaupteten, der Arzt sei eine Kapazität von Weltruf, andere, dass er gar nicht existiere. Sie waren eines Samstagmorgens dort hinaufgetrampt, Tejani und Kai, angetrieben vom Impuls einer nächtlichen Saufsitzung und einer Wette unter Freunden. Keiner der beiden war in den letzten paar Jahren außerhalb der Stadt unterwegs gewesen, und keiner der beiden wusste, ob der andere es ernst meinte. Die Straßen waren in einem haarsträubenden Zustand, nervöse Lastwagenfahrer bestanden mittlerweile darauf, ausschließlich im Konvoi zu fahren. Sie kamen nach Einbruch der Dunkelheit

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