Lied aus der Vergangenheit
Kai lächelnd da und applaudierte zusammen mit dem übrigen Personal.
Ein Paket enthielt eine Plastikpistole. Zwischen zwei Jungen fing eine Rauferei an. Der eine, sogar der kleinere, schaffte es, dem anderen die Pistole aus der Hand zu ringen, zwang seinen Kameraden, sich hinzuknien, Hände hinter dem Kopf, und schoss ihm ins Genick. Der Rhythmus des Applauses zerbröckelte. Mrs Mara trat vor und nahm die Waffe an sich, gab dem Kind ein anderes Spielzeug und stellte sich, die Pistole hinter dem Rücken, wieder in die Reihe.
Vor der Schwingtür der Ambulanz sitzt ein Junge, langgliedrig und matt, in einer Schubkarre. Sein – vom Knie abwärts stark deformiertes und bandagiertes – linkes Bein liegt vor ihm aufgestützt. Der Onkel des Jungen wedelt die Fliegen vom Bein fort. Selbst über die Entfernung erreicht Kai der süßliche Verwesungsgeruch, wie von faulenden Blumen. Die Amputation war für den Abend angesetzt. Er bleibt kurz vor den beiden stehen, fragt den Onkel, wer Blut für die Operation spenden wird. Der Mann tippt sich auf die Brust. Der Junge, fiebrig schön, mit quer über das Gesicht gemeißelten Wangenknochen und riesigen Augen mit schweren Lidern, starrt ins Leere, verträumt und sorgenvoll. Er sieht aus wie aus einer anderen Welt. Es verwundert Kai, dass der – zumeist hässliche – Tod bisweilen in solch schöner Gestalt auftreten kann.
Diagnose: Sarkom. Fortgeschritten. Therapievorschlag, hatte Kai in das Aufnahmeformular geschrieben, chirurgisch. Oberschenkelamputation links. Grund: Humanitär .
Im Vorzimmer des Operationssaals zieht er sich um, wirft das gebrauchte Grünzeug in den Wäscheeimer, kickt die Flipflops von den Füßen und schlüpft in ein Paar Gummi-Clogs. Manche der ausländischen Gastchirurgen haben eigene Clogs, mit schwarzen Filzstiftinitialen auf der Spitze gekennzeichnet. Kai ist mit einem der Paare aus dem Gemeinschaftsbestand vollauf zufrieden; schon die sind ein Luxus.
Er holt eine Kappe aus dem Regal und setzt sich auf die Bank, krümmt und streckt die Finger. Manchmal bleibt er minutenlang im Umkleidezimmer und öffnet sich, damit sich der Zustand einstellt. Einmal hat er etwas über Künstler gelesen, schöpferische und darstellende, und ihre Beziehung zu ihrer Arbeit, und hat sich in der Beschreibung wiedererkannt. Ein Schriftsteller hatte gemeint, dass es nicht so sehr darum gehe, darauf zu warten, dass die Muse zu einem herabsteigt, als vielmehr sich zu öffnen, um sie empfangen zu können. Kai weiß, dass wenn die Geräusche um ihn herum abzuebben beginnen, wenn der Außenrand seines Bewusstseins sich zusammenzieht und der Horizont näher rückt, er bereit ist anzufangen. In diesem Zustand hatte er gelernt, unter fast beliebigen Bedingungen zu arbeiten. Wie er es monatelang bei flackernder Beleuchtung getan hatte, einen brüllenden Generator in der Ecke des OP -Zimmers, und jedes Mal, wenn die Maschine verreckte und jemand losgeschickt wurde, damit er sie wieder ins Leben kitzelte, die Instrumente in der Luft, regungslos verharrend, wie ein Dirigent vor Beginn einer Ouvertüre. Wie er es getan hatte, als keine Anästhesisten verfügbar waren, als die Patienten an den Tisch geschnallt wurden und ein zusammengerolltes Laken zum Beißen zwischen die Zähne geschoben bekamen. Kai vergaß sich selbst inmitten ihrer Schreie, bekam es nicht mit, wann und ob überhaupt sie endlich das Bewusstsein verloren. Hatte sich bei alldem mit jedem verfügbaren Instrument beholfen, selbst mit Küchenutensilien.
Während der Notoperationen treibt ihn das Adrenalin in das Labyrinth, er hetzt die Gänge entlang, nach links und nach rechts, vertraut darauf, dass seine Urteilskraft ihn davor bewahren wird, in Sackgassen zu geraten und falsch abzubiegen, ständig auf der Suche nach einem noch so schwachen Licht. Mittlerweile hat das Krankenhaus Geld, zumindest ein bisschen. Die Gebäude sind renoviert worden, es gibt Ärzte aus Übersee, die hier ein Freisemester verbringen.
Heute ein Brief von Tejani. Kai zieht ihn aus der Gesäßtasche heraus und streicht ihn auf dem Knie glatt. Selbst im Computerzeitalter halten sie an dieser archaischen Form der Korrespondenz fest. Tejani hat, wie er vermutet, einen Computer zu Hause. Aber für ihn würde es einen Marsch in die Stadt bedeuten, zu einem Internetcafé, langes Warten auf die Verbindung, das umständliche Tippen seines Textes – seine Finger haben auf Tasten nie die Geschicklichkeit erreicht, die sie mit chirurgischen
Weitere Kostenlose Bücher