Lied aus der Vergangenheit
an. Als sie in der Stadt nach einer Bar suchten, um ihren Kater zu beschwichtigen, war die Erregung bereits abgestumpft, waren sie mit ihren Gedanken schon bei der Rückfahrt und den Montagsvorlesungen. Zwei Soldaten, die aus der Schwärze traten, verlangten, ihre Papiere zu sehen und zu wissen, was sie in der Stadt wollten. Tejani hatte für sie beide gesprochen, wie das bei ihnen immer der Fall war. Er war ehrlich, er erklärte den Soldaten, dass sie Studenten seien, erzählte von dem Arzt, den sie aufsuchen wollten. Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem Ärzte nicht hochgeschätzt wurden. Die Soldaten führten sie zu ihm.
Sie fanden den Mann noch bei der Arbeit vor, spätnachts unter einer einsamen insektenfleckigen Vierzig-Watt-Birne. Er arbeitete mit einem einzigen Assistenten. Tejani und Kai warteten schweigend, bis er für sie Zeit hatte. Ein kleiner Mann, der sich in seiner eigenen Haut nicht wohlzufühlen und von ihrem Besuch verblüfft zu sein schien, sie aber durchaus liebenswürdig empfing. Kai hatte einige Zeit später ein Foto von ihm gesehen, aufgenommen anlässlich der Verleihung eines Preises für seine Forschungsarbeit, auf dem er einen viel zu großen Anzug trug und die gleiche Verblüffung zeigte, umgeben von europäischen Gesichtern. Zwei Bilder von ihm: ebendieses, das später kam, und das erste, von ihm bei der Arbeit, am hinteren Ende des Zimmers, mit Proben kontaminierten Materials hantierend, angetan mit einer Tauchermaske und Schnorchel und Haushaltsgummihandschuhen.
In jenen Tagen hatten sie gelernt, was es heißt, sich zu behelfen. Während ihrer ganzen medizinischen Ausbildung war es das Gleiche gewesen. Einer führte einen Eingriff durch, die anderen schauten zu. Sie war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, diese Bedürfnislosigkeit. Und es gibt immer eine Fliege. Also beschließen sie, sich trotzdem an die Arbeit zu machen, so wie sie das immer tun. Im OP-Saal wird die Zeit nach kostbaren Minuten bemessen.
Der Amputationspatient liegt auf dem Tisch, die Arme ausgestreckt, der eine an den Blutdruckmonitor angeschlossen, der andere an einen Schlauch, in den die Schwester Ketamin pumpt. Er ist am Tisch festgeschnallt für den Fall, dass er anfangen sollte zu halluzinieren. Kai hat einen Patienten gesehen, der mitten während einer Operation aufzustehen versuchte, einen anderen gehört, der mit seiner toten Mutter sprach. Tejani hat ihm von Nachtklubs in Amerika geschrieben, wo die Leute, zugedröhnt mit Ketamin, in verdunkelten Räumen liegen. Während des Krieges hatten Militärführer die Droge Kindersoldaten gegeben, unmittelbar bevor sie sie in die Schlacht schickten.
In diesem jüngsten Brief meint Kai, eine neue Zuversicht zu entdecken. Tejanis Briefe der ersten zwei Jahre waren voller Klagen gewesen. Es war Kais Aufgabe gewesen, ihn aufzubauen. Jetzt zum ersten Mal etwas anderes. Komm, sagt Tejani zu seinem alten Freund. Komm . Das Wort beschäftigt ihn den ganzen Tag, macht ihn ruhelos, wie ein Sandkorn zwischen Hemd und Haut.
Kai betupft den Bereich, in dem der erste Schnitt vorgenommen werden wird, mit einer Mischung aus Wasser, Jodtinktur und Ampicillin.
Seligmann, der kanadische Chirurg, dem Kai assistiert, ist bereit anzufangen.
»Ich schneide.«
Kai schließt die Augen und öffnet sie wieder. Er atmet ein, lässt alle Geräusche hinter sich, alle mit Ausnahme der Stimmen des Teams und des Geräusches der Instrumente.
11
Ein Foto.
»Ich habe es mir von Babagaleh bringen lassen. Ich habe es seit Jahren nicht mehr gesehen. Es lag unter den Dingen, die wir vor ein paar Wochen zusammengepackt haben.«
Der Garten, ein weit ausholender Bogen von Laubwerk, scheint mit dem Himmel zu verschmelzen, schweren schwarz-weißen Wolken, erhellt von einem Silberschimmer, wie von fernem Wetterleuchten. Das Gesicht des Mannes im hellen Anzug liegt dagegen im Schatten der Hutkrempe. Adrian kann trotzdem sehen, dass es Elias Cole ist. Elias Cole vor dreißig Jahren.
Ich glaube, es wäre falsch zu sagen, dass ich Saffia jemals gefolgt bin. Während eines Gesprächs konnten die Namen von Orten fallen, die sie gern aufsuchte oder an denen sie einzukaufen pflegte. Später mochte es dann vorkommen, dass ich die Information in meinem Notizheft aufschrieb. Und wenn ich zufällig dort vorbeikam, schaute ich natürlich nach, ob sie zufällig auch da war. Manchmal grüßte ich sie. Manchmal hielt ich es für besser, sie nicht bei ihren Gedanken zu stören. Ich habe sie dann vielleicht von
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