Lied aus der Vergangenheit
Ileana, wie die Sache verlaufen war.
»Ich würde vermuten, dass sie einen ganz ordentlichen familiären Hintergrund hat.« Ihre Erscheinung, ihre Verfassung, die Tatsache, dass sie Englisch verstand. »Ich würde wirklich zu gern wissen, wer sie hergebracht hat. Der oder die Betreffende könnte uns vielleicht weiterhelfen.«
»Durchaus möglich. Oder auch nicht. Wenn sie tatsächlich so wirkt, wie Sie schildern, dann könnte jemand auf die Idee kommen, sie an einen sicheren Ort wie diesen zu bringen. In der Hoffnung auf eine Belohnung oder ein Trinkgeld, entweder von uns oder der Familie.«
»Hat sich irgendjemand bei der Polizei erkundigt?«
»Da habe ich große Zweifel. Selbst wenn wir davon ausgingen, dass sie sich kooperativ zeigen würde – wer hätte hier schon die Zeit dazu?«
Sie brachen an der Stelle ab. Adrian würde es in zwei Tagen noch einmal mit der Frau versuchen.
Er sitzt an seinem dritten Bier, als Kai kommt und sich ohne ein Wort der Entschuldigung auf den Stuhl neben ihm plumpsen lässt. Als ein Kellner vorbeikommt, hebt er die Hand, zeigt auf Adrians Bier, hält zwei Finger hoch. Adrian hat sich an die Schweigeeinlagen gewöhnt, an ihre Maserungen und Schattierungen. Die Bar beginnt sich zu füllen. Eine Wolke von Insekten ballt sich um die Leuchtstoffröhren, ihr Surren schwingt mit dem Summen der Röhren mit. Als Kai bei seinem dritten Bier angelangt ist, verspürt Adrian Hunger. Sie bestellen gegrillte, mit zerstampften Erdnüssen und Pfeffer bestrichene Fleischspießchen. Beschwingt und jetzt auch einigermaßen betrunken, bestellt Adrian eine weitere Runde. Er ist müde, und er kostet das Gefühl aus: die Erschöpfung, die ein harter Arbeitstag beschert.
Er summt mit der Musik mit. Noch ein Bier. Und noch eins. Eine Frau, die an der Bar steht, beobachtet Kai. Breitschultrig, blondes Haar, die Haut von Rücken und Schultern, die das Neckholder-Top frei lässt, leicht rosa und mit einem Feuchtigkeitsfilm überzogen. Er kann die fahle Spur ihres Bikiniträgers sehen, die rote Schwellung eines Insektenbisses. Ihr Mund steht offen, die Augen sind verengt, der Kopf nach hinten gewandt. Ihre ganze Haltung drückt ein so konzentriertes Verlangen aus, dass Adrian, schockiert, zu Kai hinüberschaut, ob er es auch bemerkt hat. Kai leert seine Flasche, steht auf und nimmt Kurs auf die Toilette. Dabei schwankt er leicht.
»Pass auf, wo du hintrittst.«
Die Frau stößt sich vom Tresen ab und geht auf Kai zu, ohne die Augen für einen Moment von ihm abzuwenden. Als er sich aufrichtet, steht sie vor ihm, ihre Brüste auf seine Brust gerichtet, so nah, dass ihr Körper fast seinen berührt.
»Hi«, sagt sie und streckt die Hand in dem engen Zwischenraum zwischen ihnen beiden aus. »Ich bin Candy.« Oder war es Sherrie? Irgendwas in der Art, später kann sich Adrian nicht mehr genau erinnern. Ihre Dreistigkeit macht ihn sprachlos. »Kann ich dir einen Drink spendieren?«
Kai schaut auf die Frau hinunter, die in der momentanen Stille, die im Kielwasser ihrer Frage aufwallt, dasteht und wartet.
»Nein, danke.« Er stellt seine leere Bierflasche behutsam auf den Tisch.
Die Frau macht das Beste aus der Zurückweisung, schiebt die Lippen zu einem Flunsch gespielter Enttäuschung vor, hebt die Schultern, legt den Kopf zur Seite und schaut zu Kai auf. Doch Kai entfernt sich schon in Richtung Toilette. Sie zuckt die Achseln und schlendert zu ihren Freundinnen zurück, nimmt ihren Platz an der Bar wieder ein. Einen Augenblick später rücken zwei arabisch aussehende Männer, dunkelhäutig und betrunken, von der anderen Seite der Bar an, um die Frau in ihre Mitte zu nehmen, sich über sie hinwegzulehnen, ihr in den Nacken zu atmen, ihr Haar zu berühren. Und schon lacht sie wieder.
Adrian wendet sich ab, denkt wieder über seinen Freund nach, über die Mauer in seinem Inneren. Kai bewohnt nur die Gegenwart, verrät wenig von seiner Vergangenheit. Von seinem Leben außerhalb des Krankenhauses weiß Adrian nichts Genaues, stellt sich nur ein Haus voller Angehörigen vor, ein Zimmer, das er sich mit anderen teilt, gegen das Licht verhängte Fenster. Andererseits kann Kai sich gut um sich selbst kümmern, also vielleicht eher ein Haus voll von Junggesellen. Wo sonst verbringt er seine Abende? In Lokalen wie diesem? Nein. Das hier ist nur Adrian zuliebe. Nachts hört Adrian die Laute von Kais Träumen, Schritte bis tief in die Nacht, die nirgendwo anfangen und enden; er weiß schon nicht mehr, wie oft er
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