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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Keine Sorge. Sie werden Julius’ Sticheleien nicht über sich ergehen lassen müssen.« Sie beugte sich über den Tisch und drückte meinen Unterarm.
    Freundschaft wiederhergestellt.
    Augenblicke später erschien Kekura, der seine Gürtelschnalle versorgte und dann seine feuchten Hände in der Luft wedelte, um sie zu trocknen. Ich beobachtete Saffia, die dasaß und, den Schatten einer Falte auf der Stirn, noch immer zu verarbeiten versuchte, was ich ihr gesagt hatte, vor allem aber, wie ich vermute, die Tatsache, dass sie sich offenbar hinsichtlich meiner Motive geirrt hatte. Ah, die Eitelkeit der Frauen! Sie hatte sich gestattet zu glauben, ich fühlte mich zu ihr hingezogen, und so enthielt die Frische der Erleichterung eine kühle Spitze der Zurückweisung.
    Juni. Und es hatte sich eingeregnet. Das Wasser strömte die Hügel herunter und hinaus ins Meer, befleckte die Bläue mit einem dunklen Schatten von Schlick. In den Stunden des Spätvormittags und des Nachmittags, in denen der Regen aufhörte und die Sonne schien, konnte man die Hügel über der Stadt sehen, strotzend und grün. Da die Studenten sich auf die Prüfungen vorbereiteten oder schon an den Klausuren saßen und viele Vorlesungen und Kurse infolgedessen bis zum nächsten Studienjahr ausgesetzt waren, herrschte auf dem Campus eine Atmosphäre wie in einem Badeort außerhalb der Saison. Von den Ferien abgesehen, war das die Zeit, die ich am meisten liebte. Raum zum Nachdenken, Zeit für mich. Das waren die Dinge, die ich schätzte. Nicht so Julius, der sich ohne die täglichen Auftritte im Hörsaal und die Anbetung seiner Studenten zu langweilen schien.
    Ich arbeitete wieder einmal an einem Artikel für die Fakultätszeitschrift. Ich hatte Bilanz aus meinem Gespräch mit dem Dekan gezogen und war zu dem Ergebnis gelangt, dass er mich dazu eingeladen hatte, wenn man es so formulieren konnte, unter seine Fittiche zu treten – sein Protegé zu werden. Darüber hinaus hatte ich mir seinen Rat bezüglich der Wahl eines Themas für meinen Artikel zu Herzen genommen. Wir hatten noch einmal über diesen Gegenstand gesprochen; er war auf dem Korridor an mir vorbeigegangen, »Ah, Cole!«, und hatte mich in sein Büro geführt. Ich starrte auf die Dinge auf seinem Schreibtisch, fixierte sie in meinem Gedächtnis. Onyx-Briefbeschwerer. Federständer. Elfenbeinbrieföffner. Namensschild. Der Dekan stand am Fenster und reckte mir die spitzen kleinen Gesäßbacken entgegen.
    »Interessieren Sie sich für Politik, Cole?«
    Ich verneinte, aufrichtig, wie ich glaube.
    »Gut. Nach meiner Auffassung besteht die Aufgabe von uns Akademikern darin, die Vergangenheit in die richtige Perspektive zu rücken. Um die Gegenwart können sich andere kümmern.«
    Ich murmelte einen Einspruch und fügte hinzu, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer Periode doch wohl nicht die gleichzeitige Beschäftigung mit einer anderen verbiete.
    »Ich habe nichts dergleichen unterstellt«, entgegnete der Dekan, leicht unwirsch. »Ich sage lediglich, dass wir Historiker sind – das und nichts anderes.«
    »Natürlich.« Ich verspürte, ehrlich gesagt, nicht den Wunsch, mich mit ihm anzulegen. Ich brauchte noch etliche weitere Titel auf meiner Publikationsliste, um auf dem Weg zur Festanstellung zu bleiben. Wenn der Dekan mir außerdem auch einen Verwaltungsposten anbieten sollte, umso besser.
    »Eine Universität ist ein Ort der Gelehrsamkeit, nicht der Politik. Und ich habe den Laden gern im Griff. Verstehen Sie, was ich sage, Cole?«
    Er spielte, glaube ich, oder glaubte ich zumindest damals, auf das an, was zu der Zeit in Europa und Amerika vor sich ging, die Demonstrationen, die überall auszubrechen schienen. Das Jahr zuvor war 1968 gewesen. In Paris hatte es Ausschreitungen, in Rom Streiks und Institutsbesetzungen gegeben. Im darauffolgenden Jahr war in Harvard das Gebäude der Universitätsverwaltung gestürmt worden. Das Gleiche in Berkeley, im Mai. Ein Student war von der Polizei erschossen worden. Hell empört war Julius, die Zeitung schwenkend, in mein Zimmer geplatzt. »Kinder, Cole!«, hatte er gesagt. »Das waren Kinder. Wenn man ihnen den Mut zu hinterfragen aus dem Leib prügelt, wer wird es dann tun?« Für einen Mann seiner Ausmaße war er ziemlich leicht erregbar. Er setzte sich blinzelnd hin. Ich glaube, er hatte Tränen in den Augen. Ich wusste wenig über die Unruhen, ja selbst darüber, wer oder was sie eigentlich ausgelöst hatte. Prokommunistisches

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