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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Tage bis höchstens zwei Wochen und endeten, wie Adrian überrascht las, jedes Mal mit einer Selbstentlassung. Ihr Name war Agnes.
    Als er sich vergewissert hatte, dass er mehr nicht in Erfahrung bringen konnte, war Adrian zur Frauenstation gegangen. Es war Mittagszeit. Eine Wärterin stand in der Mitte des Raums und löffelte aus Stahlbehältern Reis auf Plastikteller. Die Frauen kamen nach vorn und bildeten einen Halbkreis um den Rolltisch. Von der anderen Seite des Raums näherte sich eine Frau mit steifbeinigem Gang, vermutlich eine Begleiterscheinung von Thorazin. Lange her, dass Adrian das zuletzt gesehen hatte. In den zitternden Händen einiger anderer erkannte er außerdem eine der Nebenwirkungen von Haldol. Agnes saß auf der Kante ihres Bettes, hielt den Teller in der linken Hand und aß manierlich mit der aus dem Handgelenk herabhängenden Rechten, sammelte das Essen mit den Fingern zusammen. Ihm fiel auf, dass sie sich anschließend nicht die Finger ableckte, wie das die meisten anderen taten, sondern sie, über einem Becken, mit Wasser aus einem Kunststoffbehälter übergoss, der neben ihrem Bett stand.
    Adrian näherte sich ihr aus einer Richtung, wo sie ihn sehen konnte. Sie ließ durch nichts darauf schließen, dass sie ihn gehört hatte. Er stellte sich direkt vor sie hin, sodass ihr keine andere Wahl blieb, als ihn anzusehen.
    »Ich bin Dr. Lockheart.« Nicht die reine Wahrheit, aber er hatte schon erfahren, welches Ansehen Ärzte hier genossen. Sie schaute ohne zu blinzeln auf, das Licht in ihren Augen unverändert, sie schien ihn weder wiederzuerkennen, noch wirkte sie verwirrt. »Kommen Sie«, sagte er und bedeutete ihr aufzustehen. Er drehte sich um und entfernte sich, langsam zunächst, bis er spürte, dass sie ihm folgte.
    »Wissen Sie, wer ich bin?« Adrian saß auf Ileanas Stuhl, die Frau ihm gegenüber. Salia war gekommen, um als Dolmetscher zu fungieren. Jetzt übersetzte er Adrians Worte ins Krio. Sie hatten das vorher besprochen; wenn die Frau aus der Stadt war, würde sie es verstehen. Wenn sie von anderswoher kam, würde Salia vielleicht trotzdem helfen können, vielleicht aber auch nicht.
    Agnes saß gekrümmt da. Sie gab keine Antwort.
    »Können Sie mir Ihren Namen sagen?«
    Sie schwieg weiter, doch bewegte sie beim Klang seiner Stimme leicht den Kopf. Ihre Finger fummelten an einem losen Faden ihres Gewands. Er wiederholte die Frage. Diesmal kam ein Geräusch, ein Gemurmel, als probierte sie Laute aus. Ebenso wenig gab sie Antworten auf die weiteren elementaren Fragen, die Adrian ihr stellte. Nach dem Datum, dem Wochentag oder der Tageszeit, oder ob sie wisse, wo sie sei. Er beobachtete sie aufmerksam, die Seitwärtsbewegung des Kopfes, die Unterbrechungen ihres Zupfens. Er gewann den Eindruck, dass sie auf irgendeiner Ebene die Fragen durchaus verarbeitete. Angesehen hatte sie ihn bislang noch nicht.
    »Wissen Sie, wie Sie hierhergekommen sind?« Sie schaute auf, rollte den Kopf weit in den Nacken und starrte ins Leere, irgendwo in den Raum zwischen ihm und Salia, der gegen die Fensterbank gelehnt stand. Ein dunkler Strich erschien zwischen ihren Augenbrauen, ihre Atmung beschleunigte sich vorübergehend. Sie rieb sich mit der Hand über das Gesicht.
    »Sind Sie von sich aus hierhergekommen, oder hat Sie jemand hergebracht?«
    Das Zupfen hörte auf und ging blindwütig wieder los. Adrian schwieg eine Weile, sich dessen bewusst, dass Salia ihn, scheinbar unbeteiligt, beobachtete. Das alles würde zweifellos umgehend Attila referiert werden. Agnes’ Fingernägel, fiel ihm auf, waren geschnitten, ihr Haar ordentlich zu Zöpfchen geflochten. Entweder machte das jemand für sie oder sie machte es selbst. Er bezweifelte, dass sich irgendjemand in dieser Anstalt solche Mühe mit den Insassen gab.
    Er schlug einen neuen, kurz angebundenen, unpersönlichen Ton an. »Können Sie Ihre Finger abzählen?« Sie sah auf ihre Hände hinunter und bewegte die Finger einzeln.
    »Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf«, flüsterte sie.
    »Gut. Und jetzt die andere Hand.«
    Diesmal vergaß sie den Daumen, war bei vier fertig und starrte regungslos auf ihre Hand.
    »Versuchen Sie es noch einmal.«
    »Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.«
    Sie war also da, irgendwo da drinnen. Und sie verstand Englisch.
    Später trank er im selben Zimmer zusammen mit Ileana Tee und beschrieb ihr die Frau und die Sitzung. Er hatte sie nach fünfzehn Minuten beendet, was genug war, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Er schilderte

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