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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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der Korridor von Gewehrschussabsätzen widerhallt.
    Am Abend trägt Adrian das Paket in seine Wohnung und legt die Bücher auf den Couchtisch. Er zündet mehrere Kerzen an (der Generator will in letzter Zeit nicht so recht), öffnet eine neue Flasche Whisky und setzt sich. Er ordnet die Bücher zu einem Stapel und wählt ein schmales Bändchen aus mit dem Titel Geschichte der psychischen Erkrankungen . Er sucht das Inhaltsverzeichnis und dann das Register nach dem Wort »Fugue« ab, findet den Verweis, blättert zur entsprechenden Seite und fängt an zu lesen.
    1887 . Eine Zeit der Vagabunden und Zigeuner, der Landstreicher, Fahrenden und Vaganten. Ein in Bordeaux praktizierender französischer Psychiater behandelte jahrelang einen Patienten mit Namen Jean-Albert Dadas. Dadas war kein Herumtreiber oder Vagabund, er war etwas anderes – ein zwanghafter Wanderer. In regelmäßigen Abständen ließ er seine Familie und seine Arbeit im Stich und brach zu langen Fußmärschen auf, die ihn zum Teil bis nach Konstantinopel und Moskau führten. Irgendwann ging ihm das Geld aus, oder er wurde wegen Landstreicherei festgenommen, ins Gefängnis geworfen und gezwungen, wieder heimzukehren. Aber binnen weniger Monate zog er unweigerlich wieder los. Dadas konnte nicht angeben, warum er wanderte oder was er, einmal ans Ende seiner Reise gelangt, zu tun beabsichtigte. Manchmal konnte er sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern. Er wusste nichts außer seinem Ziel. Der Psychiater veröffentlichte einen Artikel, » Les aliénés voyageurs «, der ihm bescheidenen Ruhm einbrachte. Jean-Albert Dadas wurde zum ersten diagnostizierten fugueur der Welt.
    Der Veröffentlichung von »Les aliénés voyageurs« folgte, wie Adrian las, eine regelrechte Flut vergleichbarer »Fluchten«. Die meisten Berichte betrafen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verschollene Soldaten. Die Männer tauchten irgendwann Hunderte von Meilen von zu Hause auf. Alle behaupteten, unter Gedächtnisverlust zu leiden, nicht zu wissen, wer sie waren oder wie sie an den Ort, an dem sie aufgefunden wurden, gelangt waren. Manche lebten unter einem anderen Namen und übten einen anderen Beruf aus. Alle schienen in einem Zustand getrübten Bewusstseins zu existieren, aus dem sie irgendwann erwachten, ohne jede Erinnerung an die Wochen, Monate oder sogar Jahre, die sie anderswo verbracht hatten. Es waren keine isolierten Ereignisse im Leben dieser Männer, sondern eine Konstante, ein Verhaltensmuster – von Ortswechseln, von Wanderungen, von zwanghaftem Reisen. Die Psychiater, die diese Soldaten behandelten, witterten Simulation. Die Männer wurden als Deserteure erschossen.
    Nachdem jahrzehntelang kein einziger Fall von Fugue identifiziert worden war, machte sich eine kleine Lobby innerhalb der Profession dafür stark, die Sache als das anzuerkennen, was sie »ganz offensichtlich« war: ein von Feiglingen und Drückebergern verübter Schwindel, der aus der offiziellen Klassifizierung psychischer Störungen verbannt werden sollte.
    Drei Stunden, nachdem er angefangen hat zu lesen, legt Adrian das Buch auf den Couchtisch, steht auf und streckt sich. Er geht in die Küche, um sich ein Sandwich zu machen, schneidet einen Brotfladen auf, findet darin mitgebackene tote Ameisen im Wabenmuster der Krume, schüttelt sie auf die Arbeitsfläche, bestreicht das Brot mit Margarine und belegt es mit Scheiben von knallpinkfarbener Salami und Schmelzkäse. Er sehnt sich nach Caerphilly-Käse und vom Knochen geschnittenem Schinken. Er holt eine Flasche Heineken aus dem Kühlschrank. Der Kühlschrank ist den ganzen Tag lang immer wieder aus- und angegangen, die Flasche ist kaum kalt. Er isst das Sandwich im Stehen vor der Arbeitsfläche, vor sich sein Spiegelbild in der schwarzen Fensterscheibe. Er verspürt die bange Euphorie desjenigen, der auf einem Acker zufällig auf etwas stößt, das ein verschollener Schatz sein könnte, das Erdreich beiseitescharrt, um zu sehen, was er gefunden hat, hofft, aber nicht zu hoffen wagt, sich nicht traut, seinen Fund genau zu untersuchen, aus Angst, er könnte sich als etwas anderes erweisen, als er angenommen hatte.
    Etwas, das Salia am Tag ihres Besuchs im alten Kaufhaus sagte, die Bemerkung, die Adrian veranlasst hatte, sich die Unterlagen der Frau noch einmal anzusehen. Sie waren von der Stadt in die Anstalt zurückgekehrt. Adrian hatte Salia wegen der Worte des ehemaligen Pförtners bedrängt. Er hat gesagt, wiederholte Adrian,

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