Lied aus der Vergangenheit
Eines Tages bekam sie Kopfschmerzen; sie legte sich aufs Bett und rief dem Mädchen zu, es möchte ihr einen Becher Wasser bringen. Die Kopfschmerzen dauerten an, als hielte ihr jemand eine kalte Messerklinge an den Hinterkopf.
Ein paar Tage später erhitzte sie Öl in einem Topf, um Kochbananen zu braten. Mit einem Mal qualmte der Topf heftig und stand fast in Flammen. Sie schaffte es, ihn gerade noch rechtzeitig vom Feuer zu nehmen. Das Öl war verbrannt, sie musste den Topf säubern und wieder von vorn beginnen. Ihre Tochter war für ein paar Tage außer Hauses, sonst hätte sie sie gerufen, damit sie das Kochen übernähme. Sie hatte keine Ahnung, wo die Zeit geblieben war. In dem einen Moment stellte sie den Topf auf die Flamme, im nächsten stand er beinah selbst in Flammen.
»Wer war sonst noch im Haus?«
Sie weiß es nicht, sie schüttelt den Kopf.
»Wo war das Mädchen? Was war mit Ihrem Enkelkind?«
Sie schüttelt den Kopf. Sie erinnert sich nicht. Vielleicht waren sie draußen.
»Was war mit Ihrem Schwiegersohn?«
Schweigen. Vielleicht hat sie ihn nicht gehört. Adrian wiederholt die Frage. Und dann, bei dem Gedanken, dass ihr der Ausdruck vielleicht nicht geläufig ist, fügt er hinzu: »Dem Mann Ihrer Tochter, meine ich.«
Agnes schaut verstört. Sie legt sich die Hand an die Kehle, tastet mit den Fingern ihren Halsansatz ab. Sie wirkt auf einmal bestürzt.
»Was ist los?«, fragt Adrian.
»Wo ist meine Goldkette? Ich kann meine Goldkette nicht finden. Jemand hat sie mir weggenommen. Ist die Sache gemeldet worden? Warum hat mir niemand die Kette zurückgebracht?« Ihre Stimme hat an Gewicht gewonnen.
»Erzählen Sie mir von der Kette.«
»Sie ist aus Gold. Jemand hat sie mir weggenommen.«
»War es eine besondere Kette?«
»Sie war aus Gold.«
Adrian hört zu. Er versichert Agnes, dass alles Menschenmögliche getan werden wird, um ihre Kette zu finden. Er will sie nicht zu weit vom Pfad ihres Gesprächs abschweifen lassen. Die Erwähnung der Kette könnte bedeutsam sein, vielleicht aber auch nicht. Er macht sich im Geist eine Notiz von diesem Detail – davon, an welchem Punkt des Gesprächs es zur Sprache gekommen ist –, wie mit einer der Reißzwecken, mit denen er auf der Karte ihre Wanderungen markiert hat.
»Woran erinnern Sie sich noch? Aus der Zeit, bevor Sie von zu Hause weggegangen sind?«
Sie schüttelt den Kopf, dreht und wendet ihre Hände in ihrem Schoß. Sie scheint die Orientierung verloren zu haben.
Er drängt sie sanft weiter. »Woran erinnern Sie sich? Nennen Sie mir eine Sache, an die Sie sich erinnern. Eine einzige.«
Ein Hund, der bellte, immer und immer wieder. Davon war sie aus ihren Träumen aufgewacht. Das Geräusch war unangenehm, machte ihre Kopfschmerzen noch schlimmer. Sie lag auf ihrem Bett und sagte sich, dass sie aufstehen sollte, aber sie schaffte es irgendwie nicht, sich aufzuraffen. Immer wieder zog es sie in ihre Träume zurück. Irgendwo brannte jemand Reisfelder ab, obwohl es die falsche Jahreszeit dafür war. Der Rauch drang in ihr Zimmer und ihre Lungen. Er schmeckte bitter, ihr wurde davon übel. Draußen stieg die Sonne höher, am Fenster veränderten sich die Schatten. Sie wusste, dass sie das Haus verlassen sollte, aber sie blieb im Bann ihrer Träume.
»Was waren das für Träume?«
Sie kann sich nicht erinnern.
Adrian wartet, da er nicht häufiger als nötig unterbrechen möchte. Vor ihm in der Hitze des Zimmers sitzend, zuckt Agnes leicht, ihre Schultern und ihr Nacken erschlaffen, und ihre Lider flattern. Adrian beugt sich vor. Er ist sich zwar nicht sicher, aber es sieht ganz so aus, als schlafe sie.
»Agnes?«, sagt er leise. Beim Klang seiner Stimme strafft sie sich. »Sie können jetzt zur Station zurückgehen.«
Es ist fast Mittagessenszeit. Salia tritt vor und hilft Agnes aufzustehen. Sie wirkt sehr zerbrechlich.
An der Tür stehend, sagt Adrian: »Salia wird sich um Ihre Kette kümmern.«
Agnes schaut ihn an.
»Ihre Kette.«
»Welche Kette?« Ihr Gesicht zeigt keinerlei Regung.
»Die Goldkette, die Sie verloren haben.«
Sie erwidert nichts. Sie blinzelt und geht weiter.
Adrian beobachtet sie dabei, wie sie das Zimmer verlässt, sich erst um den Schreibtisch herumtastet und dann weiter zur Tür tappt. Sie schaut nicht zurück. Es ist nichts Gespieltes in ihren schlurfenden Schritten, dem Kopf, der leicht hin und her wackelt, während sie den Korridor entlanggeht und dann ins Freie tritt, sich zur Frauenstation wendet.
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