Lied aus der Vergangenheit
eine Spur hinterlassen, so schmerzhaft wie eine Abschürfung. Als er sich entfernte, war ihm, plötzlich und erschütternd, eine flüchtige, exquisite Möglichkeit aufgegangen. So eindringlich, dass er fast zurückgegangen wäre, um Babagaleh etwas – irgendetwas – zu sagen, damit er einen Vorwand hätte, sie wieder anzusehen.
In der psychiatrischen Anstalt begrüßt ihn Ileana. »Hey, Sie! Ich hab gute Neuigkeiten für Sie. Ihre Lady ist zurück in der wirklichen Welt.« Sie grinst, zeigt dabei dunkelroten Lippenstift auf den Zähnen.
»Herrgott! Wann ist das passiert? Sie hätten mich anrufen sollen.«
Ileana zuckt die Achseln. »Jetzt sind Sie ja da. Möchten Sie sie sehen?«
Am Fenster die Silhouette Salias, der Schildwache. Agnes sitzt gegenüber Adrian. Ihre Augen ruhen auf einem Punkt auf halber Tischbreite. Salia, registriert er, sieht sie in die Augen, aber ihm immer noch nicht. Seine Handflächen schwitzen. Er ist nervös vor gespannter Erwartung.
»Hallo. Mein Name ist Adrian. Das ist Salia, den Sie, glaube ich, schon kennen. Salia wird während des Gesprächs im Zimmer bleiben für den Fall, dass wir Hilfe benötigen, um uns gegenseitig zu verstehen. Ist das in Ordnung?«
Die Frau wirft Salia einen Blick zu und nickt.
»Ich werde dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden. Ich werde die Telefone abstellen, und Salia wird die Tür abschließen – nur um sicherzugehen, dass uns niemand unterbricht. Ist es okay, wenn er das tut?«
Wieder nickt sie. Salia tut wie geheißen.
»Wir haben uns schon einmal getroffen. Erinnern Sie sich an mich?«
Sie sieht ihn an, diesmal direkt, und dann wieder weg, runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf.
»Ich heiße Adrian. Erinnern Sie sich, dass Sie mich aufgesucht haben? Nicht hier. Im Krankenhaus?«
Sie schaut zu ihm auf, doch ihr Blick flackert und fällt. »Ein weißer Doktor.«
»Ja, das war ich.«
Mit leiser Stimme sagt Salia ein paar Worte, auf die die Frau antwortet, ohne die Augen vom Tisch zu heben.
Salia spricht. »Entschuldigen Sie. Sie sagt, sie erinnert sich. Aber nicht, ob Sie es waren. Es war ein weißer Doktor. Für manche von uns ist es schwierig … Sie verstehen.«
»Ich verstehe«, sagt Adrian. Er wendet sich wieder zu Agnes und fährt fort: »Ich möchte gern sehen, ob ich Ihnen helfen kann. Darf ich versuchen, Ihnen zu helfen?«
Wieder nickt sie.
»Okay.« Er atmet tief durch und sagt dann mit klarer Stimme zu Agnes: »Vielleicht könnten wir damit den Anfang machen, dass Sie mir sagen, wie Sie heißen und wo Sie wohnen?«
Zu seiner Überraschung erwidert sie mit ebenso klarer, wenn auch leiser Stimme: »Mein Name ist Agnes. Ich wohne in Port Loko.«
»Mit wem wohnen Sie dort?«
»Mit Familie.«
»Weswegen waren Sie in die Stadt gekommen? Wissen Sie das?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Wissen Sie, wo Sie jetzt sind?«
Diesmal nickt sie und wirft Salia, wie um Bestätigung zu erhalten, einen Blick zu.
»Können Sie mir sagen, wie Sie hierher gelangt sind?«
Sie kann sich nicht erinnern.
Es geht nur langsam voran, mit häufigen gedämpften Einwürfen Salias, denn die Frau spricht sehr leise und mit einem starken Akzent. Mal schleppt ihre Stimme, dann wieder versagt sie, als stolpere sie über ungewisse Gedanken. Von Zeit zu Zeit steigt sie aus dem Englischen aus und macht mehrere Schritte in ihrer eigenen Sprache. Adrian wünscht, er würde sie verstehen. Er spürt, dass die Luft von seinem verzweifelten Streben eingedickt ist. Im Augenblick braucht er nichts anderes zu erreichen, als sie an einen bestimmten Punkt zu begleiten, sie dazu bringen, dass sie ihm ein bisschen vertraut. Er fährt mit einfachen Fragen fort, sagt ihr, dass sie jederzeit aufhören können, bietet ihr ein Glas Wasser an.
Nach und nach führt er sie zu den Tagen vor ihrer letzten Wanderung zurück.
Das Ende der Regenzeit, erzählt sie ihm, war in Sicht. Es hatte nicht so viel zu essen gegeben. Sie ging einkaufen, Räucherfisch und etwas von dem wenigen Gemüse, das es auf dem Markt gab – zumindest gab es in der Vorratskammer noch Säcke Reis und Salz. Seit einiger Zeit litt sie an Gelenkschmerzen. Ihre Tochter hatte ihr eine Mentholsalbe gekauft und einen Termin beim Arzt vereinbart, aber er hatte nichts bei ihr festgestellt. Jedenfalls ging es ihr insoweit gut, dass sie ihre Hausarbeit erledigen, sich um den Sohn ihrer Tochter kümmern und jeden zweiten Tag kochen konnte. Unterstützt wurde sie von einem jungen Mädchen, das bei ihnen wohnte.
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