Lied aus der Vergangenheit
zum Krankenhaus, nicht über Julius’ Brücke diesmal, sondern mitten durch das Gewühl der Stadt. Im Radio läuft ein Lied. Adrian kann es nicht genau einordnen, aber es versetzt ihn um Jahrzehnte zurück. Die Titelmelodie irgendeines Films vielleicht. Der Rhythmus hebt seine Stimmung. Nicht zum ersten Mal erscheint vor ihm das Gesicht der Frau, die er mit Babagaleh hat sprechen sehen. Diesmal unternimmt er nichts, um es zu unterdrücken, erinnert sich an den Blick, mit dem sie ihn bedacht hat, daran, wie er seine Haut berührt, ihn entblößt hat, als er versuchte, sich vorbeizustehlen. Er versucht, sich ihre Gesichtszüge zu vergegenwärtigen, aber sie entziehen sich ihm. Er sieht nur den Ausdruck, den sie hatte – als wüsste sie ganz genau, was er da tat, als er versuchte, sich an Babagaleh vorbeizustehlen. Aber andererseits besaßen alle gut aussehenden Frauen diese Macht, so schien es zumindest.
Er presst sich eine Bierdose gegen die Stirn, spürt, wie die Kühle in seinen Körper sickert. Sechs Uhr. Der Tag ist zu Ende.
19
»Wie spät ist es, bitte?«
Als Adrian kam, schlief Elias Cole, seine Lider einen Ritz weit offen. Seine Atmung war ausnahmsweise einmal unhörbar, was Adrian ein momentanes Zögern bescherte, begleitet von einem Doppelschlag seines Herzens. Mit dem Tod hatte er keine Erfahrung, den seines Vaters ausgenommen. Lungenentzündung, so die offizielle Version. Es war ein langsamer Tod gewesen, ein elendes Vor-sich-hin-Sterben. Adrian wusste genug, um zu wissen, wie solche Dinge gemeinhin gehandhabt wurden. Penizillin abgesetzt, der sanfte, kalte Kuss der Morphiumnadel. Als Adrian ankam, waren die Bettlaken schon gewechselt worden. Solange sein Vater in dem Hospiz lag, machte sich Adrian Vorwürfe dafür, dass er ihn nicht häufiger besuchte. Nicht um seines Vaters willen, der ihn kaum erkannte. Oder um seiner Mutter willen, die davon überzeugt war, oder behauptete, Adrian sei durch seine Arbeit extrem beansprucht. Sondern um seiner selbst willen. Er wusste, dass er es später bedauern würde. Er machte sich Vorwürfe. Es hatte nichts genützt.
Adrian geht zum Fenster und zieht die Vorhänge zu, um die Sonne abzuschirmen.
»Es ist zwei Uhr.«
Er schenkt dem alten Mann ein Glas Wasser ein. Von anderswo das Geräusch des ausländischen medizinischen Personals, das für einen deutschen Kollegen »Happy Birthday« singt. Erst vor Minuten hat Adrian zusammen mit ihnen im Aufenthaltsraum herumgestanden und sauer gewordenen, staubigen Wein getrunken. Er hat sich vor dem Anschneiden der Torte verdrückt.
Als Adrian sich setzt, ruhen die Augen des anderen auf ihm. »Sie haben mir erzählt, die Leute hätten sich oft gefragt, was Julius in Ihnen gesehen hat.«
»Ja.«
»Und Sie selbst hätten sich oft dieselbe Frage gestellt.«
»Ich mache mir keine Illusionen.«
»Aber was haben Sie in ihm gesehen, in Julius?«
»Ich sah Saffia. Nichts als Saffia.«
20 . Juli 1969 . Das Meer der Ruhe.
Es war natürlich alles auf die Amerikaner abgestimmt. Damit sie sich den Nachmittag freinehmen und die Sache zu Hause bei Bier und Barbecue mitverfolgen konnten. Es war schließlich ihr Geld, ihr Präsident, ihre Rakete, ihre Show. Sie waren die Sieger. Der Rest der Welt konnte nur zuschauen. Die amerikanische Botschaft, an der ich auf dem Weg zum Ocean Club vorbeifuhr, pulsierte von Licht und Lärm, Würdenträger fuhren scharenweise vor. Die sowjetische Botschaft dagegen war geschlossen und dunkel, ein Trauerhaus. Der Sieger kriegt alles. Die Sowjets hatten sogar die Loyalität eines unbedeutenden Staates wie des unseren verloren. Unser Premierminister – oder war es das Jahr, in dem er sich zum Präsidenten ernannte? –, unser Präsident scharwenzelte in dem Moment, ungeachtet jahrelanger sowjetischer Freigebigkeit, um die Amerikaner herum und sonnte sich in deren Triumph.
Das Taxi, in dem ich saß, blieb in einem Verkehrsstau stecken. Ich nahm das Risiko auf mich und stieg aus. Augenblicke später fing es an zu regnen, aber inzwischen hatte schon jemand das leere Taxi mit Beschlag belegt. Keine andere Wahl, als weiterzugehen. Ich hatte meinen Schirm vergessen. Wie der Zufall es so wollte, kam ich an einer Bar vorbei, die ich kannte, und beschloss, um dem Regen zu entkommen, auf einen Drink hineinzugehen. Der Barkeeper hatte das Radio auf den World Service eingestellt, hier würde es all die Vorreden, Diskussionen und Interviews, die Expertenmeinungen geben, um die Stunden bis zum Versuch zu füllen.
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