Lied aus der Vergangenheit
Er steht am Fenster und beobachtet, sieht Salia stehen bleiben, um mit einer anderen Pflegekraft zu sprechen, und Agnes selbstvergessen weiterschlurfen, Salia seinen Schritt beschleunigen, um sie einzuholen.
Wenn sie simuliert hätte, müsste sich Adrian fragen, warum. Doch er ist sich ganz sicher, was er gesehen hat, war echt. Er war Zeuge ihres Übergangs von einem Zustand in einen anderen geworden, von einem, in dem sie sich wegen des Verlusts einer Goldkette grämte, in einen, in dem sie sich an den Verlust desselben Gegenstands nicht zu erinnern schien. Er erinnert sich an die Worte des Mannes im alten Kaufhaus, des Mannes, der Agnes in die Anstalt gebracht hatte. Salia hatte dieselben Worte gebraucht und versucht, sie Adrian zu erklären.
Agnes ist über die Grenze.
Sie sind im Patientengarten, der Rauch von Ileanas Zigarette kräuselt sich aufwärts und schlingt sich um die Äste der Bäume. Ihr Ellbogen ruht auf der Armlehne der Holzbank, ein Zentimeter Asche neigt sich von der Spitze der Zigarette hinab. Mit der anderen Hand spielt sie in der Tasche ihres Kittels mit ihrem Feuerzeug herum. Adrian kann das Kratzen des Rädchens am Feuerstein hören.
Als er verstummt, sagt sie, ohne die Augen von ihm abzuwenden: »Sie ziehen natürlich Schizophrenie in Betracht?«
»Natürlich«, erwidert Adrian. »Obwohl sie eindeutig verwirrt ist. Und es treten Aussetzer auf. Ich glaube nicht, dass ich es mit einer Psychotikerin zu tun habe. Ja, ich bin mir diesbezüglich absolut sicher.« Und dann: »Sie selbst haben sie noch nie untersucht?«
Ileana schüttelt den Kopf, eine Bewegung, die bewirkt, dass die Asche von ihrer Zigarette abfällt; sie führt, was davon übrig ist, an die Lippen und inhaliert tief, ehe sie den Stummel zwischen die abgefallenen Blüten wirft.
»Wie steht’s mit Attila?«, sagt Adrian.
»Er versucht, mit allen Patienten zu sprechen, aber es sind zu viele. Außerdem bleibt er nie lang. Es wäre bestenfalls ein Aufnahmegespräch geworden. Mehr nicht.«
Adrian hebt eine Schote vom Boden auf und fängt an, sie zu zerpflücken. Die Samen fallen heraus, klappern leise auf den Steinen. Im Moment möchte er Ileana noch nichts von seinen Überlegungen sagen, den Büchern, die er zuletzt gelesen hat. Er möchte warten, bis er sich ein bisschen sicherer ist. Auch das notwendige Gespräch mit Attila muss noch warten. Vorerst genießt er Ileanas Gesellschaft, hier im Schatten des Gartens, des friedlichsten Ortes in der Stadt. Er würde sich gern weiter mit ihr unterhalten, sie zu einem Bier einladen. Ihm wird bewusst, dass er keinerlei Ahnung von ihrem Privatleben hat, ob sie hier allein ist, verheiratet oder Single. Es fällt ihm schwer, sie sich irgendwo anders als hier vorzustellen.
»Wo wohnen Sie? Ich meine, hier, in dieser Stadt.«
»In einem Bungalow. Am Malaika Beach. Ich wohne seit einem knappen halben Jahr dort. Davor hatte ich eine Wohnung in der Stadt, ein richtiges Drecksloch. Was ich jetzt habe, ist um Längen besser. Sie sollten vorbeikommen und es sich anschauen.«
»Wohnen Sie dort allein? Ich meine …« Er ist jetzt ein bisschen verlegen. »Verzeihung. Ich wollte nicht indiskret sein. Ich dachte nur an Ihre Sicherheit.« Er verstummt abrupt.
Sie lacht und sieht ihn an; in ihren dunklen Augen liegt aufrichtige Belustigung. »Ich weiß, was Sie meinen. Und die Antwort ist: Ja, ich lebe allein. Und ich fühle mich hier sicherer als an jedem Ort in Israel – oder auch Rumänien, was das angeht – , an dem ich je gewesen bin. Ich bezweifle, dass mir das zu Hause auch nur eine Menschenseele abnehmen würde.« Sie lacht. »Als ich zuletzt in Ihrem beschissenen Land war, ist mir so ein verdammter Perverser durch ganz Haringey nachgestiegen. Ich hätte mir die Lunge aus dem Leib schreien können, und keiner hätte mich gehört.«
Ileana zündet sich eine weitere Zigarette an und steht auf. Sie verlassen zusammen den Garten.
»Tee?«
»Ja, gern.«
Auf dem Heimweg bittet er den Fahrer, am Supermarkt zu halten. Drinnen schlendert er die Gänge ab, mustert die Importprodukte, genießt die Klimaanlage. Die Preise sind fast unerschwinglich hoch, der Besitzer muss ein Vermögen verdienen. Er nimmt zwei große Tüten Kartoffelchips, holt sich ein paar Dosen Bier aus dem Kühlkasten und zählt an der Kasse schmierige Geldscheine ab. Es ist Feierabend, sein Kopf entspannt sich allmählich, er lässt sich Zeit, verzählt sich und fängt noch einmal von vorn an.
Wieder im Taxi, auf dem Weg
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