Lied des Schicksals
war zumindest für Etty und Alistair offenkundig, dass sie nicht ganz gesund war. Entgegen allen Erwartungen hatte Etty Madame, die nach allen Aufführungen unvoreingenommen und konstruktiv Kritik übte, sehr lieb gewonnen und konnte sich nicht vorstellen, wie sie jemals ohne sie als Mentorin zurechtkommen sollte.
Auch war für sie ein Leben ohne Alistair undenkbar. Sie mochte ihn so gern wie einen Bruder, aber in vieler Hinsicht war er für sie viel mehr als das. Er war ihr Vertrauter, ihr Fels in der Brandung. Mit ihm konnte sie über ihre Gefühle und ihre Probleme sprechen und wusste, dass er sie verstehen und ihr so gut raten würde, wie er nur konnte. Manchmal, wenn sie einfach nur reden musste, war er ein guter Zuhörer. Gelegentlich weinte sie sich an seiner Schulter aus, wenn sie übermüdet war oder der Stress der Proben ihr zu viel wurde.
Ein Problem, das ihr immer mehr zu schaffen machte, waren die unerwünschten Annäherungsversuche von Benito Relia. In Melbourne hatte er sie lüstern begafft, was sie ignoriert hatte. Alle anzüglichen Blicke oder sexuellen Anspielungen hatte sie absichtlich missverstanden. Sie fand ihn eher komisch und sah in ihm nicht den unwiderstehlichen Liebhaber, für den er sich anscheinend hielt. Im Ãbrigen war er fast so alt wie ihr Vater und sah bei Weitem nicht so gut aus. Leider schien ihr Desinteresse seine Leidenschaft nur zu befeuern. Eines der Mädchen aus dem Chor versuchte, Etty die Situation zu erklären.
»Benito versteht einfach nicht, dass du kein Interesse an ihm hast. Er ist der eingebildetste Mann, den ich kenne.«
»Das glaube ich gern, Maria. Er fasst mich ständig völlig unnötig und viel zu intim an. Ich fürchte, eines Tages wird er mich tatsächlich auf der Bühne küssen, statt nur so zu tun. Ich weià ehrlich nicht, wie Donna Bella ihn ertragen hat.«
»Donna Bella war seine Geliebte!«, rief Maria aus. »Das musst du doch gewusst haben!«
Etty biss sich auf die Unterlippe und zog die Augenbrauen zusammen. »Nein«, sagte sie bedächtig, »das habe ich nicht.«
»Benito hofft offensichtlich, dass du Donna Bellas Platz nicht nur auf der Bühne, sondern auch in seinem Bett einnehmen wirst.«
»Niemals! Aber danke, dass du mich aufgeklärt hast, Maria. Jetzt werde ich noch vorsichtiger auf seine Avancen reagieren.«
Trotz ihres demonstrativen Desinteresses wurden Benitos Annäherungsversuche so massiv, dass Etty nirgends mehr alleine hinging aus Angst, sich plötzlich in seiner Gesellschaft zu befinden. Madame oder Alistair waren immer an ihrer Seite. Leider erwies sich jedoch Madame in dieser Sache als keine groÃe Hilfe. Vielmehr gab sie offen zu, sie wünschte, sie wäre viele Jahre jünger.
»Benito ist ein sehr schöne Mann. Ah, diese wunderbare schwarze Augen, so geheimnisvoll, so leidenschaftlich. Eine solche Mann weiÃ, wie man einer Frau groÃe Lust bereitet. Ich hatte mal einen italienischen Liebhaber. Er hat mir beigebracht, Dinge zu spüren, die ich nie bei eine andere Mann empfunden habe.« Sie seufzte nostalgisch.
»Du solltest ihn nicht so herzlos zurückweisen, meine liebe Etty. Du bist ein groÃe Sängerin, aber du musst auch ein groÃe Schauspielerin sein. Doch das du kannst nicht sein, wenn du keine Leidenschaft erlebt hast. Du solltest in Erwägung ziehen, Benito zu deine Liebhaber zu nehmen.«
»Nichts dergleichen werde ich tun, Madame. Ich mag den Mann nicht mal besonders. Abgesehen davon ist er alt genug, um mein Vater zu sein.«
»Er ist eine hervorragende Tenor.« Madame schmollte beinahe.
»Ja, er ist ein hervorragender Tenor, und ich fühle mich geehrt, dass ich an der Seite eines Sängers seines Formats auftreten kann. Aber ich kann doch den Sänger schätzen, ohne dass ich ihn als Person mögen muss.«
»Bist du nicht immer noch Jungfrau, meine Liebe?«
Etty schnappte nach Luft. »Das wissen Sie ganz genau, aber was hat das �«
»Beim ersten Mal sollte eine Frau mit einem Mann zusammen sein, der weiÃ, was er tut. Du willst doch deine Jungfräulichkeit nicht an einen Mann verlieren, der einfach ohne Rücksicht auf deine Gefühle auf dich steigt und dich benutzt, um sich zu befriedigen.«
Etty spürte, wie ihre Wangen feuerrot wurden. »Also wirklich, Madame, dieses Gespräch wird langsam lächerlich. Ich habe nicht den
Weitere Kostenlose Bücher