Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
zu Sascha heran und sagte:«Seit wann interessieren Sie sich derart für die Musik?»
«Erst seit kurzem wieder. Ich habe sie von neuem zu lieben gelernt.»
«Und wer oder was hat Sie dazu veranlasst?»
«Warum fragen Sie mich das?»
«Weil jegliche Meinungsverschiedenheit mit Ihnen, jegliche Missbilligung Ihrerseits mir einen Schlag versetzt…»
«Tatsächlich», sagte Sascha treuherzig.
«Und dabei wünschte ich, mit Ihnen alles, alles zu teilen, dass wir beide dasselbe liebten, dass…»
«Solcherlei wagen Sie mir zu sagen?», fragte Sascha zerstreut. Mit einem Blick auf Iwan Iljitsch trat sie auf die Terrasse und sah gedankenversunken zum Himmel.
«Da ist ja mein Stern! Das ganze Frühjahr über begleitet und erfreut er mich, er ist ebenso bedeutungsvoll für mich wie jener Komet aus ‹Krieg und Frieden›, den Pierre mit tränenfeuchten Augen betrachtete, als er in der Kutsche fuhr und zum ersten Mal sich seiner Liebe zu Natascha bewusst wurde… 23 Aber liebe ich denn jemanden…? Pierre war beglückt, aber ich…? Ja, auch ich bin auf meine Weise glücklich über meine neue Liebe für… die Musik», sprach Sascha bei sich,«und um nichts in der Welt werde ich diese neue, leuchtende Liebe wieder aufgeben, auch wenn ich nichts von ihr zu erwarten habe! Unter den kleinen Sternen meiner alltäglichen Kümmernisse, Plagen und Nichtigkeiten strahlt sie ebenso hell in meiner Seele wie jener helle, grün schimmernde Stern unter den zahllosen, die in der Weite des Raums verschwinden; wie jener helle Komet Pierres.»
Sascha kam zu sich, als sich die lauten Stimmen Zwetkows und Kates der Terrasse näherten. Hinter sich führten die beiden zwei gesattelte Pferde.
Kokett forderte Kate Iwan Iljitsch auf, ihr Pferd zu begutachten und zu streicheln.«Nun denn, reichen Sie mir Ihre geniale Hand und helfen Sie mir aufs Pferd», sagte sie lachend.
«Ich bin für so etwas allzu unbegabt», zierte sich Iwan Iljitsch und trat näher zu Kate.
Doch Kate war so hübsch und blickte ihn so herausfordernd und fröhlich an, dass er sich beeilte, ihr aufs Pferd zu helfen. Er ergötzte sich an ihrer schlanken Figur und ihrem kleinen Fuß; Zwetkow war zu beneiden.
«Bei Gott, was ist er naiv, ja sogar gewöhnlich im Leben!», dachte Sascha verdrießlich. Zufällig trafen sich ihre Blicke; leichten, stolzen Schrittes und erhobenen Kopfes lief sie geschwind an Iwan Iljitsch vorbei und entschwand.
Iwan Iljitsch wollte sich verabschieden, aber Pjotr Afanassjewitsch hielt ihn auf, lud ihn ein, zum Tee zu bleiben, und versprach eine ganz erstaunliche Honigmelone. Iwan Iljitsch blickte, wie so oft, auf seine Uhr und sagte:«Es ist schon spät», doch er blieb.
Zum Tee versammelten sich wieder alle auf der Terrasse, und Sascha, blass, ein weißes Tuch über das weiße Kleid geworfen, schenkte schweigend ein. Sie war unzufrieden mit sich selbst und beunruhigt ob der Begebenheit mit Kate; sie fürchtete, dass heute keine Musik mehr erklänge, was sie sich doch von ganzem Herzen wünschte.
«Möchten Sie, dass ich für Sie spiele?», fragte plötzlich Iwan Iljitsch.
Sascha fuhr zusammen, als ob etwas Furchtbares sie erschreckt hätte.«Ich wünschte es mir sehr», erwiderte sie rasch.
Iwan Iljitsch ging ins Zimmer und begann, die Beethoven-Variationen zu spielen. Ruhe und tiefes Wohlbehagen überkamen Sascha erneut. Besonders gefiel ihr die Variation Nr. XVIII, kurz, still und doch so ausdrucksvoll. Nachdem die herrlichen Variationen zu Ende waren, dachte Iwan Iljitsch eine Sekunde nach und schlug dann mit kräftiger Hand eine Es-Oktave an. Dies war der Auftakt der As-Dur-Polonaise von Chopin.
«Ach!», rief Sascha aus und erschauerte vor Ehrfurcht. Wieder öffnete sich ein unsichtbares Ventil, und die erhabenen, herrlichen Klänge, die Saschas Seele zerrissen und zugleich aufrichteten, erfüllten sie vollkommen. Die verheißungsvollen, großartigen musikalischen Dichtungen und der überragende Vortrag Iwan Iljitschs versetzten sie in einen Zustand der Besinnungslosigkeit. Die Einzige, die wirklich zuhörte, war Sascha: Sie öffnete ihre Seele, um das Kunstwerk ganz in sich aufzunehmen. Sie saugte alles auf, was ihr diese beiden großen Musiker, der Komponist und der Interpret, zu geben vermochten: Eine solche Glückseligkeit hatte sie nie zuvor im Leben empfunden.
Gleichwohl lag in diesem einmaligen Gefühl der Glückseligkeit etwas Frevelhaftes; die Verbindung zwischen ihr und Iwan Iljitsch war derart stark, dass sie nicht mehr
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