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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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Verwandter Saschas, war erst kürzlich nach den Abschlussprüfungen des Jurastudiums auf dem Land eingetroffen. Abgeplagt und blass kam er vom Sommerhaus seiner Tante herüber, wo auch seine hübsche Cousine Kate die Ferien verbrachte. Iwan Iljitsch wurde von Zwetkow begleitet.
    Man speiste im Garten. Saschas Blumenbouquets waren hinreißend; die Schalen mit Früchten, das englische Porzellan, das blitzende Tafelsilber und die strahlende Sonne – alles war feierlich, edel und prachtvoll.
    Zwetkow sollte neben Kate sitzen; Sascha bat Iwan Iljitsch, neben ihr Platz zu nehmen. Eifersüchtig beobachtete dieser seinen Schüler und dessen Tischdame, die angeregt plauderten und lachten. Sascha war nervös und sprach gespreizt mit ihrem Nachbarn; zudem ärgerte sie sich über ihren Gatten, der den Gästen einmal eine zweite Portion auf den Teller auftat, dann wieder Wein nachschenkte. Muchatow, der Opernliebhaber, hielt es für notwendig, mit Iwan Iljitsch über Musik zu sprechen. Dieser aß fleißig alles, was Pjotr Afanassjewitsch ihm auf den Teller legte, und hörte mit unübersehbarer Belustigung den begeisterten Lobreden auf Wagner zu. 22
    «Sie mögen natürlich Wagner, Alexandra Alexejewna?», fragte Muchatow.
    «Ich kenne ihn kaum», antwortete Sascha.
    «Sie kennen ihn nicht! Studieren Sie ihn, und es wird sich Ihnen eine ganz neue Welt der Seligkeit eröffnen. Er ist ein Genie! Wie großartig sind seine Gedanken, wie vortrefflich ihr musikalischer Ausdruck, wie mannigfaltig die musikalischen Themen der Opern.»
    «Für mich ist das ein einziges Chaos», wandte Sascha schüchtern ein.«Mich langweilt es.»
    «Ich bitte Sie! Es langweilt Sie! Ja, hören Sie doch einmal aufmerksam hin; das ist nicht das Geklingel der italienischen Opern Verdis, sondern etwas vollkommen Originelles, Neues: Die Stimme ist Teil eines grandiosen Ganzen, geht im Orchester auf und wird zu einem seiner besten Instrumente. O ja, der wagnersche Klang – ich kenne nichts Erhabeneres auf der Welt! Im nächsten Frühjahr werde ich unbedingt Urlaub nehmen und nach Bayreuth fahren! »
    «Für mich ist diese ganze neue Musik allerdings eine einzige Qual. Mir scheint, dass die Leute nur so tun, als ob sie etwas davon verstünden. Dabei ist es einfach nur Lärm, der den Ohren weh tut», warf Pjotr Afanassjewitsch ein.
    «Die neue Musik ist die Musik der Zukunft», bemerkte Kurlinski bescheiden.
    «Besonders die von Iwan Iljitsch», erklärte Zwetkow euphorisch.
    «Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Sujet für eine Oper schenken», wandte Muchatow sich an Iwan Iljitsch.«Ein ganz erstaunliches!»
    «Ich wäre sehr froh», entgegnete, wie stets mit leichter Ironie, Iwan Iljitsch.
    «Ja, kann man denn Sujets verschenken?», warf Sascha leidenschaftlich ein.«Ein Sujet kann doch nur etwas ganz Eigenes sein, etwas ganz Persönliches, das aus dem besonderen Charakter des Künstlers hervorgeht. Wenn er ein Genie ist, so fühlt er nicht nur die Forderungen, die die moderne Zeit an seine Kunst stellt, sondern auch die drängendsten Forderungen der gesamten Menschheit, und mit seinem Werk antwortet er darauf.»
    «Ja, wenn sie nur antworten würden, aber oft haben diese Künstler doch gar keinen Erfolg», hielt Muchatow mit Verärgerung und Schärfe dagegen, verstimmt über Saschas erbitterten Einspruch.
    «Alexandra Alexejewna hat recht», bemerkte Kurlinski bewundernd, woraufhin Sascha errötete.
    Iwan Iljitsch blickte voller Neugier und Interesse in Saschas Augen, blinzelte einen Moment verlegen und wandte sich wieder seinen Erdbeeren zu.
    Nach dem Essen gingen alle auseinander. Kate lief nach Hause, um ihr Reitkleid anzuziehen; sie wollte mit Zwetkow ausreiten, dem Pjotr Afanassjewitsch sein Pferd angeboten hatte. Muchatow und Pjotr Afanassjewitsch erörterten die Frage, ob einem Unternehmer, dessen Arbeiter ihm die Fabrik angezündet hatten, die Versicherungssumme auszuzahlen sei oder nicht.
    Iwan Iljitsch ließ sich mit Kurlinski zum Schach nieder. Sascha nahm ihre Handarbeit auf und stickte schweigend. Ihr war so wohl, so behaglich zumute. Die Vorfreude auf Iwan Iljitschs Spiel verlieh ihr eine tiefe innere Ruhe. Bisweilen blickte sie auf die schönen Hände Iwan Iljitschs, der wortlos die Schachfiguren bewegte, und dachte darüber nach, was er für ein Mensch sei. Sie konnte ihn nicht begreifen.
    Es dämmerte. Plötzlich hörte sie eine bebende Stimme hinter sich. Muchatow, der seine Unterhaltung mit Pjotr Afanassjewitsch beendet hatte, trat leise

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