Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
zerrissen werden konnte. Sie bestand auf immer, auf ewig, was auch geschehen und wie sich Saschas Leben nach diesem Abend gestalten mochte. In dieser Minute ergriff Iwan Iljitsch vollständig von ihr Besitz, und die Bemächtigung ihrer Seele war umfassender und bedeutungsvoller, als es die des Körpers jemals sein konnte. Sascha erschauderte. Sie blickte Iwan Iljitsch demutsvoll, leidenschaftlich an, und als dieser ihren Blick nach dem Ende der Polonaise erwiderte, wurden ihm sein Triumph und seine Macht über die ihm ergebene junge Frau plötzlich bewusst.
«Bei Gott!», wiederholte Sascha bei sich,«was ist das…? – Ich danke Ihnen», sprach sie dann laut,«welch bemerkenswerte Polonaise.»
«Ja, mein Bester, das war stark», sagte Pjotr Afanassjewitsch.
Iwan Iljitsch erhob sich fast schwankend, suchte mit unruhigem Blick zuerst Sascha, sah dann auf die Uhr und verabschiedete sich.«Sie sind eine gute Zuhörerin», sagte er mit einem Lächeln und hielt wieder lange Saschas Hand.
Darin lag etwas so Zärtlich-Intimes, dass sich Sascha danach sehnte, diese Hand ewig in der ihren zu spüren, ewig in diese gütigen, nun abermals ganz erloschenen Augen zu blicken.
«Leben Sie wohl», und die Schatzkammer der künstlerischen Kostbarkeiten, in die Sascha soeben geblickt hatte, verschloss sich.
«Nein, nicht ‹Leben Sie wohl›», dachte sie,«auf morgen, auf Wiedersehen.»Sascha war unendlich froh gestimmt, das Gehörte klang in ihr nach: die feierliche Melodie der Polonaise, die schwierige Kombination der Stimmen in dem Präludium, die Beethoven-Variation und Mendelssohns«Lied ohne Worte».
Und so schlief Sascha mit diesen Klängen ein, die ganz von ihr Besitz genommen hatten. Ihr träumte von Iwan Iljitsch; im Schlaf spürte sie seine Nähe, seinen warmen Atem. Sie sah sein beseeltes Gesicht, das, für gewöhnlich gleichgültig und ruhig, beim Spiel einen machtvollen und beunruhigenden Ausdruck annahm.
XI
«Darf ich eine Minute stören?», fragte Kurlinski. Er fand Sascha auf der Terrasse, wo sie in der Beethoven-Biographie las, die Iwan Iljitsch ihr gegeben hatte.
«Ja, Sie dürfen», antwortete Sascha widerstrebend,«treten Sie näher.»
«Ich bin gekommen, um Ihnen für den gestrigen Tag zu danken, für den Hochgenuss, den Ihr Nachbar uns vergönnte.»
«Ja, dann danken Sie ihm, ich habe damit nichts zu tun.»
«Nun, ich war bereits bei ihm und habe ihm eines meiner Gedichte rezitiert.»
«Wieder eins im Stil der Décadence?»
«Wenn Sie die neue Strömung der Poesie so nennen möchten. Sie sind so feinfühlend allem gegenüber, Alexandra Alexejewna, doch in dieser Frage halte ich Ihre Ansicht für voreingenommen. »
«Ganz und gar nicht, Vorurteile sind mir zuwider. Aber ich bin offensichtlich schlicht zu dumm, um die Gedichte Balmonts 24 oder Baudelaires 25 und die Musik Wagners zu verstehen. »
«Darf ich Ihnen gleichwohl meine Gedichte vortragen?»
«Nun denn, aus Freundschaft zu Ihnen will ich sie anhören.»
Kurlinski zog ein Notizbuch von recht großem Format aus der Tasche und begann mit Grabesstimme einige unverständliche Gedichte zu rezitieren. Als er das letzte vortrug, in dem von Sascha die Rede war, blickte er sie mit verliebten Augen an, schlug den Blick indes sogleich erschrocken nieder.
Am Rand der Terrasse stand Iwan Iljitsch und hörte die letzten Verse mit an.«Wunderbar», sagte er, wie immer, mit leichter Ironie.«Ich werde das vertonen, und Ihre Cousine wird es singen. Bringen Sie Notenpapier aus meinem Haus.»
Kurlinski entfernte sich, und Iwan Iljitsch erkundigte sich bei Sascha, ob er sie störe.
«Aber nein, ich habe nichts zu tun, gerade sind die Bauersfrauen gegangen, die mich allemal um Arznei bitten. Es ist so aufreibend, sich um die kranken Leute zu kümmern.»
«Ich denke, es ist gerade im Gegenteil eine beglückende Tätigkeit.»
«Nein, nicht immer. Ich weiß, dass es ohne Zweifel gut ist, eine Wunde zu spülen und sie zu verbinden, doch wenn man die Krankheit nicht feststellen und deshalb nicht helfen kann – diese Hilflosigkeit, die Zweifel und das Versagen, das ist aufreibend und tut weh.»
«Wie sehr Sie für alles entflammen. Sie sollten gelassener sein.»
«Ich danke für diesen Rat. Ich werde Ihrem Vorbild nacheifern.»
«Ja, ich schätze meine Ruhe sehr.»
«Und wenn Sie musizieren oder komponieren, sind Sie dann auch absolut gelassen?»
«Absolut.»
«Und wie komponieren Sie?»
Iwan Iljitsch dachte nach.«Das ist schwer zu
Weitere Kostenlose Bücher