Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
gleichmütig,«das wollte ich keineswegs. Ich habe die Zeit mit Ihnen stets als angenehm empfunden, und was Sie mir nun sagten…»
«Ich weiß gar nicht mehr, was ich Ihnen sagte», entgegnete Sascha, zur Besinnung kommend, kurz angebunden und schroff.«Nun, ich muss nach Hause. Rufen Sie Aljoscha.»
Iwan Iljitsch erhob sich und warf Sascha einen unruhigen Blick zu, er wollte etwas antworten, doch er hielt ein.
Aljoscha, mit einem kleinen Paket in der Hand, schokoladeverschmiertem Mund und strahlend vor Freude, umarmte Tichonytsch, verabschiedete sich von Iwan Iljitsch und trat mit seiner Mutter in den Flur.
Iwan Iljitsch nahm Saschas Jacke von der Garderobe und half ihr ungeschickt hinein. Für einen Moment verweilte seine Hand auf Saschas Schulter; sie begriff nicht, ob diese seltsame Geste absichtlich oder zufällig geschah, und drehte ihr Gesicht ihm zu, ihre Blicke trafen sich. Saschas Augen zeigten erschrecktes Erstaunen.«Tatsächlich?», dachte sie. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie die Häkchen an ihrer Jacke nicht zu schließen vermochte.
«Lassen Sie mich Ihnen helfen», sagte Iwan Iljitsch.
Demütig und hingebungsvoll neigte sich Sascha ihm zu, und Iwan Iljitsch schloss die Jacke, wobei er ungelenk mit seinen Händen ihr Kinn berührte.
Die Berührung durchfuhr Saschas Leib wie ein elektrischer Schlag. Sie zuckte zusammen, warf noch einmal einen Blick auf Iwan Iljitsch und war plötzlich vollkommen gefasst.
«Auf Wiedersehen, Alexandra Alexejewna», sagte Iwan Iljitsch.«Darf ich Sie wieder einmal besuchen?»
«Leben Sie wohl», antwortete Sascha leise. Sie griff Aljoscha bei der Hand und nahm, nicht imstande, zu Fuß zu gehen, einen Wagen nach Hause.
«Vielleicht liebt er mich ja doch», schoss ihr für einen Augenblick durch den Kopf.«Aber ich wäre nicht froh darüber. Warum nur empfinde ich nun nicht jenes Glück, von dem ich träumte, als ich darauf wartete, dass er meine Liebe erwidere? Nein, ich will, ich kann mit diesem Menschen kein hoffnungsloses Abenteuer eingehen, ich wage es nicht. Von allem auf der Welt ist es doch die Reinheit , die mir am teuersten ist. Er soll der makellose Hohepriester seiner Kunst bleiben und ihr ergeben dienen, und seine Seele soll unbefleckt und rein bleiben. Und ist mein Leben auch zerstört, so geht es doch sündlos dahin, ohne sich der unrechten Liebe schuldig gemacht oder ihn zur Liebe verführt zu haben, welche das gesamte Dasein dieses genialen Komponisten in Unordnung brächte und es vernichtete. Vielleicht ist auch er erschrocken ob der Möglichkeit, dass er Liebe für mich empfinden könnte… Der Wunsch nach seiner Liebe peinigt mich. Sie ist aussichtslos, es ist an der Zeit zu erwachen, an der Zeit, zu begreifen, dass sie unmöglich ist und uns beiden zum Schaden gereichen würde…»
XV
Mehr als ein Monat verging. Der März kam und mit ihm die Fastengottesdienste in Moskaus Kirchen, die Rast von den aberwitzigen, immerwährenden Vergnügungen des städtischen Lebens, die Poesie des bevorstehenden Frühlings, die Aufregung der Schüler und Studenten vor den Examen – all jene Ereignisse, die sich im März eines jeden Jahres wiederholen.
Doch für Sascha existierte diese Welt nicht mehr. Nachdem sie beschlossen hatte, ihre Empfindungen für Iwan Iljitsch niederzukämpfen und seine Person von ihrer Liebe zur Musik zu trennen, begann Sascha, ihm auszuweichen. Sie spielte ganze Tage lang Klavier, studierte mit einer Lehrerin des Konservatoriums schwierige Stücke ein, machte beträchtliche Fortschritte.
Mit der Fastenzeit begann auch die Konzertsaison, und rastlos besuchte Sascha alle Musikaufführungen. Iwan Iljitsch sah sie nur von ferne, aber niemals mehr bat sie ihn, sie zu begleiten, bot ihm nicht mehr an, ihn in ihrer Kutsche mitzunehmen, lud ihn nicht ein, sie in ihrem Haus zu besuchen und für sie zu spielen. Sie begegneten sich kühl und distanziert. Verschwunden waren jene Schlichtheit und Vertrautheit, die eine solche Sicherheit im Umgang miteinander verleihen, dass man nichts, nicht einmal die Abgründe seiner Seele, zu zeigen fürchtet. Iwan Iljitsch stattete Sascha selten Besuche ab, ohne zu ergründen, warum Sascha sich ihm gegenüber derart verändert habe, vielleicht aber erriet er es doch. Er litt nicht darunter, war allzu beschäftigt und allzu sehr darauf bedacht, Gleichmut zu wahren, die ihm für seine Tätigkeit unabdingbar war. Bisweilen fehlte ihm etwas: jene innige, herzliche Atmosphäre, jene Poesie der
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