Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Liebe, mit der Sascha ihn umgeben und die er geradezu gedankenlos genossen hatte.
Für Sascha indes hatte das Leben ohne ihr Warten auf Iwan Iljitsch und sein Klavierspiel jeglichen Sinn verloren und war ihr unerträglich geworden. Leidend und elend lief sie durch die Wohnung. Sie weinte, deklamierte klagend mit furchteinflößender Stimme Worte aus seiner Romanze:«Komm, komm zu mir…», saß am Klavier und hielt Zwiesprache mit seinen Werken:«Hier hast du gelitten, und hier ein Flehen, und als du dieses wunderbare Werk schufst, hast du um etwas gebetet… Und hier ist deine Liebe… Doch zu wem? Und hier die ruhige, rationale Betrachtung eines inneren, geistigen Prozesses… oder der Natur, mag sein… Darum ist die Musik ja so vollkommen, weil ein jeder in ihr träumen kann. Deine ganze, ganze musikalische Seele habe ich studiert und kenne sie so gut und liebe sie…»
Die Erinnerung an seinen seltsam unsteten Blick ließ Sascha aufspringen, vergeblich suchten ihre Arme jene Umarmung, die ihr junges, leidenschaftliches Wesen so sehr sich ersehnte.
«Hier, Saschenka, ein Brief für dich», sagte Pjotr Afanassjewitsch, der unerwartet ins Zimmer kam, nachdem er vom Postboten ein Kuvert in Empfang genommen hatte.
«Ach, mein Gott, von Kurlinski. Wo mag er nur sein, der Ärmste?»
Sascha las den Brief:
«Erinnern Sie sich, Alexandra Alexejewna, jenen Tages, als Sie mir in meinem Gefängnis wie ein tröstender Engel erschienen, und wie Sie mich zu überreden suchten, mich nicht gegen den Strom zu stellen, sondern den Militärdienst zu leisten? Viel habe ich seit jenem Tag nachgedacht. Ich weiß, dass Sie mich ein zweites Mal besuchen wollten, man Sie aber nicht mehr zu mir ließ. Und dies ist auch besser so. In meiner Einsamkeit habe ich beide Übel gegeneinander abgewogen: den Militärdienst ganz zu verweigern oder ihn abzuleisten. Und ich kam zu dem Schluss, dass aus meiner Verweigerung mehr Übel entspringt, dass Sie recht hatten, dass ich mich damit abfinden und demütig das Unausweichliche, sei es auch ein Übel, annehmen muss. Einen ganzen Monat schon trage ich nun den Soldatenrock, in einigen Tagen werden wir an die persische Grenze versetzt, und vor der Abreise möchte ich mich wenigstens schriftlich von Ihnen verabschieden, Ihnen danken und Ihnen sagen, dass ich beim Fortgehen Ihr strahlendes Antlitz in meinen Gedanken mit mir trage und dem Schicksal danke für das Glück, welches mir die Bekanntschaft mit Ihnen gab.
Auf dass dieses Schicksal Ihnen Glück schenken und den lauteren, reinen Weg Ihres Lebens auf immer beschützen möge.
Ihr Kurlinski.»
«Glück – mir? Aber er ist doch gar nicht mehr lauter und rein, mein Weg!», dachte Sascha.«Nun, Gott sei es gedankt», sagte sie laut.
«Was ist denn?», fragte Pjotr Afanassjewitsch.
«Er hat schließlich doch den Militärdienst angetreten und wird nun mit seiner Truppe nach Persien geschickt. Dort wird er viel Interessantes sehen und zur Vernunft kommen.»
«Ich kann in seiner Entscheidung nichts Positives sehen», sagte Pjotr Afanassjewitsch verzagt.«Besser wäre gewesen, wenn er sich heldenhaft widersetzt hätte.»
«Es wäre also besser, dass die Mutter trauert, sich verzehrt, leidet», entgegnete Sascha ärgerlich,«so seid ihr Männer – je mehr Gewalt und Pein, desto glücklicher seid ihr…»
In letzter Zeit herrschte zwischen Sascha und ihrem Gatten stets der gereizte Ton einer unausgesprochenen, unterdrückten Trauer. Beide litten und sehnten sich nach Klärung, doch diese ergab sich nicht, und das Zusammenleben wurde immer unerträglicher.
Pjotr Afanassjewitsch trat ans Fenster und begann, junge Sprösslinge mit zwei zarten Trieben in einen neuen Topf umzusetzen. Sein Gesicht war nachdenklich, es zeigte nicht mehr jene heitere Unbekümmertheit von einst. Er tat Sascha leid. Sie erhob sich und stellte sich neben ihn.
«Was ist denn, Sascha?»
«Ach nichts, ich möchte dir nahe sein.»
«Das freut mich sehr, meine Liebste. Sieh doch, wie meine Verbenen aufgesprossen sind. Das ist eine sehr seltene Sorte. Und wie sie erst im Sommer sein werden, ein Wunder!»
Sascha ging schweigend ihrem Mann bei seiner Arbeit zur Hand, und ein paar ihrer großen Tränen begossen die jungen Pflanzen.
«Welch glücklicher, redlicher und argloser Mensch!», dachte sie.«Und ich? Ich werde diese Verbenen pflücken, mich ihrer erfreuen, mein Haar und mein Kleid mit ihnen schmücken, um einem anderen zu gefallen, der sich gar nicht für mich
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