Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
traurig und besorgt.
XVI
Letzte Seufzer des Liedes
Als Sascha am nächsten Morgen erwachte, schien sie sich gefasst zu haben, und Pjotr Afanassjewitsch ging, nachdem er sie schweigend auf die Stirn geküsst hatte, zum Dienst. Zum Essen kam er nach Hause und fand sie am Flügel sitzend und spielend. Am Abend hatte er eine Besprechung und ging erneut fort. Den ganzen Tag hatte Sascha kein Wort gesprochen, doch kaum hatte ihr Mann das Haus verlassen, kleidete sie sich an und begab sich im Laufschritt dorthin, wo Iwan Iljitsch wohnte. Sie hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, und als sie sein Haus erreichte, ging sie vor dem Tor auf und ab, in der vergeblichen Hoffnung, er käme heraus. Hinter den Fenstern wurden die Lampen entzündet, einige Male bewegten sich Schatten hin und her, und jemand öffnete das Fenster. Sascha erstarrte vor Schreck, und ihre Aufregung wurde derart unerträglich, dass sie sich in einer Windung des Zauns auf der Bank des Hausknechts niederließ. Sie bebte am ganzen Körper, lauschend und sich ängstigend, dass jemand sie sähe. Plötzlich waren aus dem Fenster Klänge des Fis-Dur-Nocturnes von Chopin zu vernehmen, das sie so sehr liebte. Sie hatte es im Winter bei einem Konzert gehört, hervorragend interpretiert von einem Professor des französischen Konservatoriums, und es danach selbst einstudiert. Doch so wie Iwan Iljitsch vermochte niemand auf der Welt es zu spielen. Wenn Aufregung jemanden zu Tode bringen kann, so wäre dies in jenem Moment Sascha geschehen. Etwas in ihr zerbrach auf immer. Die Zähne zusammengebissen, die Hände aneinandergepresst, versteinert und wie wahnsinnig, strebte Sascha mit ihrem ganzen Sein zu Iwan Iljitsch. Ihr schien, dass sie augenblicklich diese Welt verlassen, aus sich heraustreten müsse, da ihre Lebenskraft nicht ausreiche, ihre Seele bei sich zu halten. Sie erhob sich und lief unter derartigem Stöhnen und Heulen die Straße entlang, dass die Vorübergehenden stehen blieben und sie anstarrten.
Als sie nach Hause zurückkehrte, war Pjotr Afanassjewitsch bereits wieder zugegen, und Katusja war gekommen, sie zu besuchen. Sascha würdigte die beiden keines Blickes, sie bemerkte sie gar nicht, eilte an ihnen vorbei und setzte sich an den Flügel. Zuerst stimmte sie jene Beethoven-Sonate an, die Iwan Iljitsch an ihrem Geburtstag im Sommerhaus gespielt hatte. Leise und feierlich erklang das erste Arpeggio und verstummte. Doch dann das Allegro – ihr Spiel wurde leidenschaftlicher, ausdrucksvoller, eindringlicher. Sie ahmte die Interpretation Iwan Iljitschs so meisterhaft nach, dass es an manchen Stellen genau wie die seine klang. Doch sie spielte die Sonate nicht zu Ende und ging gleich zum Chopin-Nocturne über. Schließlich blickte sie um sich, ohne etwas zu sagen, und begann Mendelssohns«Lied ohne Worte»in G-Dur. Jäh hielt sie ein und schrie wie rasend:«Die Musik ist nicht mehr, nein, sie ist ganz besudelt und beschmutzt, sie ist verloren», und blasswangig, mit verzerrtem Gesicht, sank Sascha vom Hocker zu Boden.
Die ganze Nacht redete Sascha wirr und litt schreckliche Qualen, fortwährend wiederholte sie, alles auf der Welt habe seine Reinheit verloren, allein Iwan Iljitsch stehe weit über allem und erlaube ihr nicht, sich ihm anzunähern… Sie streckte die Hand aus und bat ihn, für sie zu spielen.
Man schickte nach einem Arzt, der Übermüdung des Herzens und Überreizung der Nerven feststellte.
Am folgenden Tag lag Sascha blass und still darnieder, nur ihre Finger bewegten sich, als ob sie Klavier spielten, und ihre großen schwarzen Augen ließen solch auswegloses Leid erkennen, dass ein jeder ihren Blick floh.
Pjotr Afanassjewitsch wich nicht von Saschas Seite. Am Tag darauf war Saschas zerrütteter Gemütszustand noch offenbarer. Immer wieder setzte sie sich an den Flügel, begann ein Stück zu spielen, dann wieder ein anderes. Große Anstrengung wandte sie auf, eine Notenschrift der Sinfonie Iwan Iljitschs zu durchdringen. Als sie endlich müde wurde, wandte sie sich an ein unsichtbares Gegenüber:«War das gut? Nicht wahr, das ist ein erstaunliches Werk… Und doch… ach, wie bin ich müde… Hören Sie auf zu spielen, es ist keine Musik mehr, man hat sie im Schmutz ausgelöscht… Mein Gott, wie mich die Töne quälen…»
Und völlig entkräftet legte Sascha sich nieder und schlief ein.
Am Morgen des dritten Tages, nach einem Blick auf ihren schlafenden Gatten, den die vergangenen Tage der Verzweiflung nahe gebracht
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