Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
interessiert.»
Sascha konnte sich nicht mehr bezähmen, lief in ihr Zimmer, warf sich etwas über und verließ, ohne jemandem ein Wort zu sagen, das Haus.
Es war der Tag der Verkündigung Mariä. Der Frühling war zeitig angebrochen, der Eisgang auf der Moskwa hatte begonnen. Die Hausknechte kehrten mit ihren Besen das Wasser von den Trottoiren, das in breiten Strömen auf die Straße flutete und in der Kanalisation verschwand. Sascha ging zum Fluss hinunter. Über die Brüstung der Kamenny Most 48 gelehnt, beobachtete sie die Eisschollen, die, sich aufbäumend, an den Pfeilern der Brücke zerschellten. Um Sascha herum drängten sich zahllose Arbeiter, die sich nach ihrem Feierabend in Vorfreude auf das Fest hier versammelten und Maulaffen feilhielten, Bemerkungen von sich gaben und Schalen von Sonnenblumenkernen ausspuckten, deren Haufen am Gitter der Brücke und auf dem steinernen Vorsprung sogleich ins Auge fielen.
Lange betrachtete Sascha die vorbeiziehenden Eisschollen, ihr wurde schwindelig, und es schien ihr, als ob die Brücke sich bewegte, doch als sie zu sich kam, sah sie, dass es das Eis war, das dahinschwamm. Der blaue Himmel spiegelte sich im trüben, brodelnden Wasser, und Sascha wurde erneut von Schwindel erfasst. Plötzlich meinte sie wieder, nicht die Eisschollen bewegten sich, sondern die Brücke, sie selbst und das glotzende Fabrikarbeitervolk schössen in der hellen Frühlingssonne dahin.
«Ich schwimme… ich fahre… wohin?… Ja, wohin? Lange, lange ist es her, dass Iwan Iljitsch die Sonate spielte und in mir ebendiese Frage weckte, wohin ich strebe. Ist es vielleicht jenes Streben, das uns in die Ewigkeit hinüberträgt, sobald die Frage nach dem ‹Wohin?› auf immer gelöst ist? Denn da diese Frage existiert, muss auch jenes geheimnisvolle Etwas existieren, das wir mit ganzem Herzen und ganzer Kraft zu erreichen suchen, denn die Frage nach dem ‹Wohin?› macht uns stets glücklich.»
Der Gedanke an den Tod erschien Sascha plötzlich so klar und leuchtend, dass sie drauf und dran war, sich in den Fluss zu stürzen. Aber das schmutzige Wasser der Moskwa war ihr schrecklich. Saschas Liebe zur Reinheit hielt selbst hier sie zurück.«Die Zeit wird kommen! », dachte sie bei sich, wie es alle denken, die noch nicht für den Tod, den Freitod bereit sind.
Wie lange Sascha so dastand, war ihr nicht bewusst. Als sie wieder zur Besinnung kam, dämmerte es bereits. Ein langer Frühlingstag war vergangen, wie und wann – sie wusste es nicht. Doch noch immer mochte sie nicht nach Hause. Ihr fiel ein, dass nicht allzu weit entfernt ihre junge Freundin Katusja wohnte, und beschloss, zu ihr zu gehen. Katusja stöhnte auf, als sie Saschas ansichtig wurde.
«Was ist Ihnen, liebe Sascha? Sind Sie krank?»
«Nein, ich bin müde und habe den ganzen Tag nichts gegessen.»
«Aber warum denn? Haben Sie mit Ihrem Mann gestritten?»
«Mit meinem Mann?»Sascha hatte ganz und gar vergessen, dass sie einen Mann hatte, einen Sohn und ein Zuhause, und verstand die Frage ihrer Freundin deshalb nicht gleich.«Nein, ich bin sehr, sehr müde… Katusja, warum ist denn alles auf der Welt derart beschmutzt? Alles, alles…»
«Was reden Sie denn, liebe Freundin? Sie sollten etwas essen, Sie sehen ja furchtbar aus. Warten Sie, ich bringe Ihnen etwas Hühnchen.»
«Ja, später. Aber, so hör mich doch an, das ist überaus interessant. Sieh doch, überall Schmutz, überall menschliche Leidenschaft… Du liebst die Musik, doch dann beginnst du, den Menschen zu lieben – und die Musik ist verloren, befleckt durch die menschliche Leidenschaft. Kurlinski liebt die Menschen, liebt das Leben – und doch wird er geschickt, zu morden, wird zum Soldaten gemacht… Das Wasser des Flusses ist schmutzig, die reine Erde ist bedeckt von Steinen und menschlichem Unrat, der klare Himmel ist bedeckt von Rauch und Ruß, die reine Liebe der Menschen ist besudelt vom Betrug der einander Nahestehenden, und es gibt keinen Ausweg, nein, nein, ich selbst bin beschmutzt, widerwärtig, verloren…»
Sascha weinte bis zur Besinnungslosigkeit. Katusja betrachtete sie bestürzt, jäh wurde ihr klar, dass Sascha seelisch krank sein musste. Sie beruhigte sie und brachte sie mit einem Wagen nach Hause, wo Pjotr Afanassjewitsch, der seine Frau aufgewühlt und unermüdlich den ganzen Tag gesucht hatte, sie mit einem Ausruf der Freude in Empfang nahm. Doch als er Sascha ansah, erkannte er sogleich, in welchem Zustand sie sich befand, und schwieg
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