Lilien im Sommerwind
sie zwischen ihr und den Erinnerungen stand, die den Raum wie Rauch erfüllten. Hinter der Mauer war nur kühles, klares Blau. Wasser, in dem sie sich treiben lassen konnte. Und in dem sie endlich einschlafen konnte.
Über dem blauen Pool strahlte die Sonne weiß und warm. Tory hörte Vögel singen, und das Wasser plätscherte, als sie mit den Händen hindurchfuhr. Ihr Körper war gewichtslos, und sie war von einer tiefen Ruhe erfüllt. Am Rand des Pools standen prächtige Korkeichen und eine Weide tauchte ihre Zweige in die klare Wasseroberfläche.
Lächelnd schloss Tory die Augen und ließ sich treiben.
Das Lachen war hoch und hell, die sorglose Fröhlichkeit eines Mädchens. Träge öffnete Tory die Augen.
Dort, bei der Weide, stand Hope und winkte.
Hey, Tory! Hey, ich habe dich gesucht!
Freudig winkte Tory zurück. Komm her! Das Wasser ist toll.
Sie werden uns wegen Nacktbadens verhaften. Dennoch schleuderte Hope kichernd die Schuhe von den Füßen und schlüpfte aus Short und Bluse. Ich dachte, du seist weggegangen.
Sei nicht blöd. Wohin sollte ich denn gehen?
Ich habe so lange nach dir gesucht! Langsam glitt Hope ins Wasser. Gertenschlank und marmorweiß. Ihr Haar breitete sich wie ein Schleier auf der Oberfläche aus. Gold auf Blau. Eine Ewigkeit.
Das Wasser wurde trübe und begann sich zu kräuseln. Die anmutigen Zweige der Weide schlugen wie Peitschen. Und das Wasser war auf einmal so kalt, dass Tory zu zittern begann.
Ein Sturm kommt auf. Wir gehen besser.
Es schlägt über mir zusammen. Ich kann nicht stehen. Du musst mir helfen!
Die Wellen wurden immer höher und Hope schlug wild mit den Armen um sich. Wie ein Vorhang drang Wasser aus ihrem Mund und es war so schlammig braun wie der Sumpf.
Tory schwamm voller Panik auf sie zu, aber mit jedem Zug entfernte sie sich mehr von der Stelle, an der das Mädchen um sein Leben kämpfte. Das Wasser brannte Tory in den Lungen, zog an ihren Füßen. Sie spürte, wie sie selbst unterging, spürte, wie sie ertrank, mit Hopes Stimme im Kopf.
Du musst kommen! Du musst dich beeilen!
Sie erwachte im Dunkeln, im Mund den Geschmack des Sumpfes. Da sie weder den Mut noch die Energie hatte, die Mauer wieder aufzubauen, stand sie auf. Im Badezimmer spritzte sie sich rostiges Wasser ins Gesicht, dann hob sie den Kopf, um in den Spiegel zu blicken.
Ihr Blick war noch glasig von dem Traum, und sie hatte Schatten unter den Augen. Zu spät, um umzukehren, dachte sie. Es war immer zu spät.
Tory ergriff ihre Tasche und das noch unbenutzte Reisenecessaire.
Die Dunkelheit war jetzt beruhigend, und der Schokoriegel und der Saft, die sie sich aus dem Automaten vor ihrem Zimmer gezogen hatte, hielten sie wach. Sie schaltete das Radio ein, um sich abzulenken. Sie wollte nur noch an die Fahrt denken.
Als sie die Autobahn erreicht hatte, war die Sonne aufgegangen, und der Verkehr wurde dicht. Bevor sie nach Osten abbog, tankte sie den Wagen auf. Als sie an der Ausfahrt vorbeifuhr, die dort hinführte, wo sich ihre Eltern wieder niedergelassen hatten, krampfte sich ihr Magen zusammen, und das blieb die nächsten dreißig Meilen so.
Tory dachte an ihre Großmutter, an die Sachen, die sie hinten im Auto hatte oder die nach Progress geliefert wurden. Sie dachte an ihr Budget für das nächste halbe Jahr und an die Arbeit, die es sie kosten würde, bis sie ihr Geschäft aufgebaut hatte.
Sie dachte an alles Mögliche, nur nicht an den wahren Grund, warum sie nach Progress zurückkehrte.
Kurz vor Florence hielt sie noch einmal an, kämmte sich auf der Toilette einer Tankstelle die Haare und legte ein wenig Make-up auf. Ihre Großmutter würde sich davon nicht täuschen lassen, aber einen Versuch war es immerhin wert.
Einem Impuls folgend hielt sie auch am Blumenladen noch einmal an. Der Garten ihrer Großmutter war jedes Jahr ein Ereignis, aber die zwölf rosafarbenen Tulpen waren ein weiterer Versuch, die Großmutter versöhnlich zu stimmen. Immerhin hatte sie nur knapp zwei Stunden von ihrer Großmutter entfernt gelebt, sich jedoch seit Weihnachten nicht mehr die Mühe gemacht, sie zu besuchen.
Als Tory in die hübsche Straße mit den blühenden Sträuchern einbog, fragte sie sich nach dem Grund dafür. Es war eine gute Gegend, wo die Kinder in den Gärten spielten und Hunde im Schatten dösten. Eine Gegend, in der die Leute über den Zaun hinweg ein Schwätzchen hielten, auf fremde Autos achteten und die Häuser der Nachbarn sowohl aus Vorsicht als auch aus Neugier im
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