Lilien im Sommerwind
hatte er sich eingeredet, er mache einen reinen Pflichtbesuch. Aber er hatte sich nicht täuschen können, und Tory offensichtlich auch nicht.
Die Neugier hatte ihn zu dem Haus getrieben, obwohl eigentlich ein Dutzend dringende Angelegenheiten seine volle Aufmerksamkeit erforderten.
Er war dazu erzogen worden, die Farm zu leiten, aber er leitete sie auf seine eigene Art. Eine Art, die nicht jedem gefiel. Er hatte gelernt, den Politiker und Diplomaten zu spielen. Er hatte gelernt, alle möglichen Rollen zu spielen, um zu bekommen, was er wollte. Jetzt fragte er sich, was für eine Rolle er wohl bei Tory spielen musste.
Ob sie es nun zugeben wollte oder nicht, ihre Heimkehr brachte etwas aus dem Gleichgewicht. Sie war der Stein, der in den Brunnen fällt, und ihr Erscheinen würde weite Kreise ziehen.
Cade war sich nicht sicher, was er mit ihr machen sollte. Aber er war ein Farmer, und Männer, die mit der Erde, der Saat und dem Wetter lebten, waren geduldig.
Aus einem Impuls heraus fuhr er an den Straßenrand, obwohl auf Beaux Reves jede Menge Pflichten auf ihn warteten. Die neue Saat ging auf, und wenn die Saat wuchs, wuchs auch das Unkraut. Er musste die Pflege der Felder überwachen. Dies war ein wichtiges Jahr für seine Pläne. Er musste jeden Schritt und jede Phase sorgfältig beobachten.
Dennoch stieg er aus dem Wagen und ging über die kleine Holzbrücke in den Sumpf hinein.
Hier war die Welt grün, üppig und lebendig. Pfade waren in die Wildnis geschlagen worden, und an ihren Rändern wuchsen, ordentlich wie in einem Park, Azaleen, die ständig blühten. Zwischen den Magnolien und Schirmakazien standen Wildblumen und kleine Hügel aus immergrünen Gewächsen. Es war nicht mehr die aufregende, ein wenig gefährliche Welt seiner Jugend.
Es war inzwischen der Schrein für ein verlorenes Kind.
Sein Vater hatte ihn errichtet, aus Trauer, aus Stolz, vielleicht auch aus Wut, die er nie gezeigt hatte. Aber sie hatte wie Krebs in ihm gewuchert, das wusste Cade. Und diese Geschwüre der Wut und Verzweiflung waren heimlich und leise gewachsen und hatten sich ausgebreitet.
Innerhalb der Wände von Beaux Reves war die Trauer wie eine Krankheit behandelt worden. Und hier, dachte Cade, hatte man sie in Blumen verwandelt.
Im Sommer blühten Lilien in allen Farben, und jetzt, im Frühling, standen schon überall die zarten gelben Iris, die es gern feucht hatten. Sie sahen aus wie winzige Sonnenstrahlen. Man hatte Lichtungen für sie geschaffen, das Gestrüpp zurückgeschnitten. Obwohl es schnell nachwuchs, hatte sein Vater zu seinen Lebzeiten immer dafür gesorgt, dass alles in Ordnung gehalten wurde. Auch diese Verantwortung hatte Cade übernommen.
Auf der Lichtung, wo Hope in ihrer letzten Nacht ein Feuer entzündet hatte, stand eine kleine Steinbank. Über den tabakbraunen, von Zypressen beschatteten Wasserlauf war eine Brücke gebaut worden. Am Ufer standen üppige Farne und weiß blühende Rhododendren. Im Winter würden Kamelien und Stiefmütterchen blühen.
Und zwischen der Bank und der Brücke, mitten in einem Beet aus rosafarbenen und blauen Blumen, stand die Marmorstatue eines lachenden kleinen Mädchens, das immer acht Jahre alt bleiben würde.
Vor achtzehn Jahren hatten sie sie beerdigt, auf einem Hügel, im Sonnenlicht. Aber hier, in den grünen Schatten und den wilden Düften, lag Hopes Seele.
Cade setzte sich auf die Bank und ließ die Hände zwischen den Knien baumeln. Er kam nicht oft hierher. Seit dem Tod seines Vaters vor acht Jahren kam sonst überhaupt niemand mehr hierher, zumindest niemand aus der Familie.
Was seine Mutter anging, so hatte es diesen Platz nicht mehr gegeben, nachdem man Hope gefunden hatte. Vergewaltigt, erwürgt und dann weggeworfen wie eine zerbrochene Puppe.
Wie viel von dem, was ihr angetan worden war, war seine Schuld?, fragte sich Cade, wie unzählige Male zuvor.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er hatte Tory angelogen. Er wollte doch etwas von ihr. Er wollte Antworten. Antworten, auf die er mehr als die Hälfte seines Lebens gewartet hatte.
Es dauerte fünf Minuten, bis er sich wieder gefasst hatte. Seltsam, dass er erst jetzt merkte, wie sehr es ihn aufgewühlt hatte, sie wieder zu sehen. Sie hatte Recht gehabt, als sie sagte, dass er ihr kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als sie Kinder waren. Sie war das kleine Bodeen- Mädchen, mit dem seine Schwester herumzog, und es war unter der Würde eines zwölfjährigen Jungen gewesen, sich damit zu
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