Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilien im Sommerwind

Lilien im Sommerwind

Titel: Lilien im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
Vom Netzwerk:
cremefarben gestrichen, eine langweilige, aber angenehme Farbe. Die Böden waren sauber. Es roch leicht nach Farbe und Politur.
    Tory ging in die Küche.
    Es gab neue Arbeitsplatten, in neutralem Steingrau. Die Schränke waren weiß gestrichen. Der Herd war ebenfalls neu - oder jedenfalls neuer als der, an dem ihre Mutter geschwitzt hatte. Aus dem Fenster über der Spüle blickte man immer noch über den Sumpf. Üppig, grün und geheimnisvoll.
    Tory nahm all ihren Mut zusammen und machte sich auf den Weg zu ihrem alten Schlafzimmer.
    War es immer schon so klein gewesen?, fragte sie sich. Kaum groß genug für eine Katze, aber für ihre Bedürfnisse hatte es ausgereicht. Ihr Bett hatte nahe am Fenster gestanden. Nachts oder morgens hatte sie gern hinausgeschaut. Sie besaß eine kleine Kommode, deren Schubladen jeden Sommer klemmten. In der untersten Schublade hatte sie Bücher versteckt, weil Daddy es nicht erlaubte, dass sie etwas anderes als die Bibel las.
    In diesem Zimmer mischten sich die guten Erinnerungen mit den schlechten. Wie sie heimlich spät in der Nacht gelesen hatte, ihre Träume geträumt und Abenteuer mit Hope geplant hatte. Und natürlich die Erinnerung daran, wie sie geschlagen worden war.
    Niemand würde je wieder Hand an sie legen.
    Es würde ein ganz brauchbares Arbeitszimmer sein, beschloss Tory. Ein Schreibtisch, ein Aktenschrank, vielleicht ein Sessel zum Lesen und eine Lampe.
    Sie wollte im ehemaligen Zimmer ihrer Eltern schlafen. Ja, dort würde sie schlafen und es zu ihrem eigenen Zimmer machen.
    Sie wollte das Zimmer schon wieder verlassen, konnte dann aber doch nicht widerstehen und öffnete die Tür des Wandschranks. Dort kauerte ihr eigener Geist im Dunkeln, das Gesicht tränenüberströmt. Bis sie acht war, hatte sie bereits die Tränen eines ganzen Lebens vergossen.
    Tory hockte sich hin und fuhr mit den Fingern über das unterste Bord. Zitternd ertastete sie die hineingeritzten Buchstaben, las sie mit geschlossenen Augen, so wie Blinde Brailleschrift lesen.
     
    ICH BIN TORY
     
    »Das stimmt. Das stimmt! Ich bin Tory. Das konntest du mir nicht nehmen, das konntest du nicht aus mir herausprügeln. Ich bin Tory. Und ich bin wieder da.«
    Taumelnd richtete sie sich wieder auf. Luft. Sie brauchte Luft. Im Schrank war nie Luft gewesen, nie Licht. Ihre Hände wurden feucht.
    Sie wollte aus dem Raum stürzen und wäre wahrscheinlich auch aus dem Haus gelaufen, aber vor der Scheibe der Hintertür lauerte ein Schatten. Und als die Strahlen der Nachmittagssonne darauf fielen, erkannte sie die Umrisse eines Mannes.
    Die Tür knarrte, als Tory sie aufmachte, und sie war wieder acht Jahre alt. Allein, hilflos. Und verängstigt.

4
     
    Der Schatten sagte ihren Namen, den vollständigen Namen, Victoria, und es klang so, als flösse eine schwere Flüssigkeit aus einer angewärmten Flasche.
    Sie wäre am liebsten weggelaufen, und es beschämte und überraschte sie, dass in ihr immer noch so viel von dem Kaninchen steckte, das beim leisesten Knacken eines Zweiges in das nächste Loch sprang. Die Geister des Hauses drängten sich um sie und flüsterten ihr Drohungen ins Ohr.
    Sie war schon oft weggelaufen. Mehr als einmal. Es hatte ihr nichts genutzt.
    Wie erstarrt stand sie da. Als die Tür aufging, stieg Panik in ihr auf.
    »Ich habe dich erschreckt. Tut mir Leid.« Seine Stimme klang ruhig, die Stimme eines Mannes, der gewohnt war, die Ängstlichen zu beruhigen oder eine Frau zu verführen. »Ich wollte nur rasch vorbeikommen und nachsehen, ob du irgendetwas brauchst.«
    Er stand genau auf der Schwelle, und weil die Sonne von hinten auf ihn schien, war sein Gesicht nicht zu erkennen. Torys Gedanken überschlugen sich. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
    »Bist du so lange weggewesen, dass du nicht mehr weißt, wie schnell sich Klatsch in Progress verbreitet?«
    In seiner Stimme lag ein Lächeln, das bestimmt dazu gedacht war, ihr das Unbehagen zu nehmen. Es galt der Angst, die sie gezeigt hatte, die sie zu einem leichten Ziel machte. Das zumindest konnte sie fortan verhindern. Sie verschränkte die Hände. »Nein, ich habe gar nichts vergessen. Wer bist du?«
    »Wenn du jetzt ein Geräusch hörst, ist das mein Ego, das in sich zusammenfällt. Ich hätte dich selbst nach all diesen Jahren noch in der größten Menschenmenge erkannt. Ich bin's, Cade«, sagte er und kam einen Schritt näher. »Kincade Lavelle!«
    Er trat aus dem Schatten heraus, und Torys Furcht ließ nach, weil sie ihn jetzt

Weitere Kostenlose Bücher