Lilien im Sommerwind
dass Vollbäder etwas für Mädchen und runzelige, alte Männer waren. Und ich warf sicher meine schmutzige Wäsche in den Wäschekorb, weil Lilah mir sonst die Ohren lang gezogen hätte. Dann zog ich saubere Sachen an, kämmte mir die Haare, nahm mir wahrscheinlich einen Moment lang Zeit, meinen Bizeps anzuspannen und das Ergebnis im Badezimmerspiegel zu bewundern. Schließlich ging ich hinunter.
Zum Abendessen gab es Hühnchen. Gebratenes Hühnchen mit Kartoffelpüree und Soße, und dazu Erbsen, die frisch aus dem Garten waren. Faith mochte keine Erbsen und weigerte sich, sie zu essen, was man ihr vielleicht auch zugestanden hätte. Aber sie brach eine Diskussion darüber vom Zaun, wie sie das oft tat, und schließlich schickte Mama sie erbost auf ihr Zimmer.
Ich glaube, Chaucy, Papas treuer alter Hund, der im Winter darauf starb, bekam die Reste von Faiths Teller.
Nach dem Essen stromerte ich draußen herum und fragte mich, wie ich Papa am besten dazu überreden konnte, dass er mich ein Fort bauen ließ. Bis dahin waren alle Anstrengungen in dieser Richtung fehlgeschlagen, aber ich dachte, wenn ich nur die richtige Stelle ausfindig machen konnte, eine, an der man den Bau nicht so deutlich sah, hätte ich vielleicht Erfolg.
Auf diesem Erkundungsgang entdeckte ich Hopes Fahrrad, das sie hinter den Kamelien versteckt hatte.
Mir kam nicht in den Sinn, sie zu verpetzen. So gingen wir als Geschwister nicht miteinander um, es sei denn, Wut oder Eigeninteresse wogen schwerer als Loyalität. Ich machte mir auch keine Gedanken deswegen, obwohl ich mir gut vorstellen konnte, dass sie sich an jenem Abend heimlich davonschleichen und mit Tory treffen wollte, weil die beiden schon den ganzen Sommer über so dicke Freundinnen waren. Ich wusste, dass Hope das schon öfter getan hatte, und konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Aber Mama war mit ihren Töchtern viel strenger als mit ihrem Sohn. Deshalb sagte ich nichts über das Fahrrad und dachte weiter über das Fort nach.
Doch ein Wort von mir, und ihre Pläne hätten sich zerschlagen. Sie hätte mir unter gesenkten Wimpern einen heißen, wütenden Blick zugeworfen und sich wahrscheinlich einen, oder auch zwei Tage geweigert, mit mir zu sprechen.
Und sie wäre am Leben geblieben.
Stattdessen ging ich in der Dämmerung zurück ins Haus und setzte mich vor den Fernseher, was ich an langen Sommerabenden durfte. Da ich erst zwölf war, hatte ich unbändigen Appetit, und machte mich schließlich auf die Suche nach einer geeigneten Zwischenmahlzeit. Ich aß Kartoffelchips, schaute mir Polizeirevier Hill Street an und fragte mich, wie es wohl sein mochte, ein Polizist zu sein.
Als ich zu Bett ging, mit vollem Magen und müden Augen, war meine Schwester bereits tot.
Cade hatte gedacht, er könnte mehr schreiben, aber es gelang ihm nicht. Er hatte vorgehabt, niederzuschreiben, was er über den Mord an seiner Schwester und den Mord an einem jungen Mädchen namens Alice wusste, aber seine Gedanken waren von den Tatsachen und der Logik abgeschweift, und er hatte sich in Erinnerungen und Trauer verstrickt.
Er hatte nicht geahnt, dass sie für ihn wieder lebendig werden würde, wenn er über sie schrieb. Dass die Bilder jener Nacht und die schrecklichen Bilder des nächsten Morgens in seinem Kopf ablaufen würden wie ein Film.
Ob es für Tory auch so war?, fragte er sich. Wie ein Film, der sich im Kopf abspielte und nicht angehalten werden konnte?
Nein, es war mehr. Wusste sie, dass sie, als sie am Abend zuvor die Vision hatte, eher mit dem Mädchen als über sie gesprochen hatte? Vielleicht hatte ja auch das Mädchen Alice durch sie gesprochen.
Wie stark musste man sein, um sich dem zu stellen, es zu ertragen und sich trotzdem ein Leben aufzubauen?
Cade nahm die beschriebenen Blätter und wollte sie in eine Schublade des alten Schreibtischs schließen. Aber dann faltete er die Seiten und steckte sie in einen Umschlag.
Er würde noch einmal mit Tory reden müssen. Er hatte Recht gehabt, als er am ersten Tag sagte, der Geist seiner Schwester stünde zwischen ihnen.
Ihre Beziehung würde sich nicht entwickeln können, bevor sie sich nicht beide mit dem Verlust auseinander gesetzt hatten.
Mit ihrem widerhallenden, tiefen Dröhnen schlug die alte Standuhr die volle Stunde. Zwei Uhr. In vier Stunden musste er schon wieder aufstehen, sich im blassen Licht des Morgens ankleiden, das Frühstück zu sich nehmen - darauf bestand Lilah immer - und dann von Feld zu Feld fahren
Weitere Kostenlose Bücher