Lilienblut
Boden tasten ließ. Er sah sich irritiert um.
Sabrina stellte sich ihm mitten in den Weg und hob die Stimme, damit er sie auch erkannte. »Einen schönen Gruß von meiner Mutter, Franziska Doberstein, soll ich ausrichten.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über den dünnen, scharf gezeichneten Mund. »Haben Sie Beate gesehen?«
»Sie ist zum Markt. Eis essen. Bei dieser Kälte!«
Empört sah er sich nach seinen Schäfchen um, die geduldig und frierend im dunklen Torbogen ausharrten.
Sabrina erinnerte sich, dass das Stadttor zum Anfang der
Führung gehörte. Wenn sie um elf begonnen hatte … Ein flüchtiger Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass der Richter für die zweihundert Meter vom Treffpunkt bis zur Stadtmauer stolze eineinhalb Stunden gebraucht hatte.
»Danke!« Sie nickte ihm zu und lief weiter.
Hinter ihrem Rücken hörte sie, wie er seine unterbrochenen Ausführungen genau an dem Punkt fortsetzte, an dem er aufgehört hatte. Es war nicht weit bis zum Marktplatz, und als sie ihn endlich erreichte und bemerkte, dass Luigi schon die Stühle in die Sonne gestellt hatte, hüpfte ihr Herz. Und dann sah sie Beate, die mit einer Eistüte in der Hand hinaus in die Sonne trat und blinzelte. Sabrina winkte ihr zu, doch im gleichen Moment drehte sich Beate zu jemandem um, der ihr hinaus ins Freie folgte.
Lukas.
Sabrina erstarrte zur Salzsäule. Lukas trat neben Beate und legte den Arm um sie und die ließ es ohne Widerspruch geschehen. Sie suchten sich ein warmes Plätzchen, setzten sich, aßen ihr Eis, und plötzlich sagte Beate etwas, und Lukas fing an zu lachen. Er legte seine Hand auf ihr Knie und Beate schob sie nicht weg. Im Gegenteil. Sie rückte noch näher an ihn heran.
Sabrina hatte das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Schnell machte sie eine Kehrtwendung und verschwand hinter einem Eckschaufenster. Hoffentlich hatten die beiden sie nicht gesehen. Sie starrte in die Auslage – neonfarbene Sommerkleidchen und billige Plastikschuhe – und erinnerte sich daran, dass sie im letzten Sommer vor diesem Schaufenster gestanden hatte und direkt Janine in die Arme gelaufen war.
Vorsichtig sah sie sich um. Das fehlte noch. Immerhin waren Beate und Janine befreundet. Oder das, was Beate darunter verstand. Sabrina lugte vorsichtig um die Ecke. Jetzt hatte Lukas wieder seinen Arm um Beate gelegt. Beide sahen aus wie ein Liebespaar. Was zum Teufel ging da ab? Lukas kannte auch Janine, sehr gut sogar. Kreise, die sich überschnitten …
Plötzlich hatte Sabrina das Gefühl, in einem Kinofilm gelandet zu sein, in dem jeder die Story kannte, nur sie nicht.
Beate hatte sie einmal überrascht auf dem Marktplatz, als sie mit Lukas fast genau an der gleichen Stelle gesessen hatte. Damals hatte sie geglaubt, Beate wäre sauer, weil sie sie angelogen hatte. Vielleicht aber … Wieder schob sich Sabrina ein paar Zentimeter vor und betrachtete das Paar. Er braucht jemanden, der ihm Paroli bieten kann. Das waren Beates Worte gewesen. Hatte sie damit vielleicht sogar sich selbst gemeint? Waren Beate und Lukas schon länger zusammen? Oder hatte Beate nur auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet? Vielleicht log hier jeder jeden an, und sie, Sabrina, war die Einzige, die ganz naiv noch an Liebe und Freundschaft glaubte.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Jetzt holte Beate tatsächlich die Brille aus der Tasche und zeigte sie Lukas. Sie konnte nicht sehen, wie er reagierte. Er stand auf, Beate auch. Sofort zuckte Sabrina zurück. Wenn sie jetzt hierherkamen und sie entdeckten?
Sie rannte wie von Furien gehetzt das Kopfsteinpflaster hinunter. Richtung Stadttor ging es steil bergab und um ein Haar wäre sie ausgerutscht und hingefallen. Unten lief sie fast dem Richter in die Arme, der seine Ausführungen irritiert unterbrach und ihr etwas von rücksichtlosen Irren hinterherrief. Sie rannte, bis sie außer Atem von Weitem den Bus an der Haltestelle erkannte und betete, dass sie ihn noch erwischen würde.
Sie schaffte es mit Müh und Not. Als sie endlich die letzte Reihe erreicht hatte und sich auf die Polster fallen ließ, kamen die Tränen. Sabrina ließ ihnen freien Lauf, denn sie wusste, wenn das Weinen aufhörte, würde die Wut kommen. Und die Kälte. Und die Klarheit. Und danach vielleicht ein weiterer dünner Panzer, der sich um sie legen und sie schützen würde vor allem, was sie verletzen könnte und noch kommen würde.
DREISSIG
Der Zeitungssausschnitt fiel Sabrina erst ein, als Franziska die
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