Lilienblut
Liegeplätze für ein paar Sportboote hatten.
Sie folgte dem Zaun nach links. Als sie das Gelände des Campingplatzes passiert hatte, tauchten die Kleingärten auf. Die meisten lagen noch im Winterschlaf. Nur auf einer Parzelle bearbeitete gerade eine ältere Frau in Gummistiefeln ihren Komposthaufen. Neugierig sah sie auf, als Sabrina zu ihr an den Zaun kam.
»Guten Tag. Ich suche Herrn Schraudt. Rainer Schraudt.«
»Der ist ganz hinten.« Sie deutete mit der Harke weiter in die Richtung, in die Sabrina gelaufen war. »Ich habe ihn aber heute noch nicht gesehen.«
Die unausgesprochene Frage »Was wollen Sie denn von ihm?« hing in der Luft, und Sabrina bedankte sich rasch, um ihr zu entgehen.
»Ach, und das Schiff? Die Désirée?«
Die Frau unterbrach ihre Arbeit wieder. Sie stützte beide Arme auf den Stiel und war mit einem Mal das Misstrauen in Person. »Welches Schiff?«
»Das Schiff von Kilian.«
Der Blick der alten Frau schien Sabrina durchbohren zu
wollen. »Ich kenne kein Schiff und keinen Kilian.« Sie warf die Harke auf den Komposthaufen, drehte sich um und ging davon.
Sabrina steckte die Hände in die Jackentaschen und stapfte weiter. Es war kalt, diesige Schleier am Himmel verdichteten sich zu lichtgrauen Wolken. Sie lief schneller, um sich durch die Bewegung aufzuwärmen. Als sie das Ende der Kleingartenanlage erreicht hatte, sah sie sich ratlos um. Weit und breit war niemand zu sehen. Die letzte Parzelle war nicht ganz so aufgeräumt wie die anderen, sie ging beinahe übergangslos in den angrenzenden Wald über. Efeuranken überwucherten den niedrigen Zaun, jemand hatte nachlässig Reisig und Tannenzweige auf die Beete geworfen. Die niedrige Hütte war ganz aus Holz, allerdings in einer Art Patchwork aus den unterschiedlichsten Teilen zusammengesetzt.
»Hallo?«, rief Sabrina.
Sie überlegte nicht lange und ging auf die Hütte zu. Sie war verschlossen. Durch die fast blinden Fensterscheiben konnte sie kaum etwas erkennen. Ein Stuhl, ein ungemachtes Bett … Hier war niemand. Alles sah aus, als ob es noch in tiefstem Winterschlaf läge.
Vorsichtig umrundete sie die Hütte und entdeckte auf der Rückseite einen schmalen Trampelpfad. Das Laub vom Vorjahr hatte sich zu einer dichten Schicht zusammengeklebt und dämpfte ihre Schritte. Sie folgte dem Pfad, der sich in Windungen hinunter zum Wasser schlängelte und dann am Ufer weiterführte, um schließlich in einer Biegung hinter den Bäumen zu verschwinden.
Plötzlich fühlte sich Sabrina so schwach wie nach einem Tausend-Meter-Lauf. Ihre Knie begannen zu zittern. Sie wusste nicht, was hinter dieser Biegung auf sie wartete, doch sie ahnte es. Ihre Schritte wurden langsamer. Noch zehn Meter, noch fünf … Sie ging hinter einem dicken Baum in Deckung und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Tief durchatmen, dachte sie. Entweder ist er hier oder ich gebe endgültig auf. Dies ist deine letzte Chance, von mir gefunden
zu werden. Und meine, herauszufinden, was ich wirklich fühle.
Jetzt.
Sie schob sich hinter dem Stamm hervor und da sah sie ihn.
Er stand am Ufer und schnitzte eine Gerte. Er war so in sein Tun vertieft, dass er sie gar nicht bemerkte. Die Haare waren dunkler, nicht mehr so ausgeblichen wie im Sommer. Sie fielen ihm in die Stirn, als er sich über den Ast beugte und ihn von seinen Blättern befreite. Das Messer glitt über das Holz, schwungvoll und mit einem weiten Auswerfen von beherrschter Kraft. Hinter ihm am Ufer lag die Désirée . Dunkel, rostend, Totenschiff und Heimat zugleich für seinen geheimnisvollen Kapitän. Sabrina prägte sich jedes Detail ein, als ob sie vor einem Gemälde stehen würde, das sich jeden Moment in Luft auflösen könnte.
Sie musste ein Geräusch gemacht haben oder der Wind hatte einen fremden Geruch hinübergetragen. Kilian hob den Kopf, ließ das Messer sinken und drehte sich langsam um.
Er sagte kein Wort. Sein fein gezeichnetes Gesicht war winterblass, auf den Wangen lagen die Schatten eines Dreitagebartes. Er trug einen dicken Rollkragenpullover, weite Cordhosen und grüne Anglerstiefel. Sabrina blieb fast das Herz stehen. Er würde immer der attraktivste Mann bleiben, den sie je gesehen hatte. Sie stand bewegungslos da und ließ sich von seinem Blick verbrennen, der über ihre Gestalt wanderte und schließlich wieder an ihren Augen hängen blieb. Endlich, nach einer Ewigkeit, ließ er die Gerte fallen, steckte das Messer sorgfältig in ein Futteral am Gürtel und kam auf sie
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