Lilienblut
sollen. Einer vom Hafen. Hat sich wahrscheinlich was schwarz in die Tasche gesteckt. Da sieht man, wo das alles endet.«
Seine Stimme triumphierte. Natürlich. Für den Richter war die Sache klar: Der Mord wäre nicht passiert, wenn man den Schiffer vertrieben hätte.
Falsch, korrigierte sich Sabrina. Er wäre nicht in Andernach passiert. Offenbar war der Richter ein glühender Anhänger des Sankt-Florian-Prinzips.
»Wie ist es denn ausgegangen?«
»Tja. Offiziell heißt es, der Mann habe sie erstochen. Im Affekt.«
»Und inoffiziell?«
»Reine Indizien. Er konnte sich an nichts mehr erinnern.«
»Und das Kind?«
»Kam in ein Schifferinternat. Hat nichts gesagt. Kind ist ja wohl übertrieben. Der Knabe war elf und damals schon mit allen Wassern gewaschen.«
»Elf«, wiederholte Sabrina. »Das ist doch viel zu jung.«
Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Richters. Es war, als ob ein Anflug von Milde über seine Züge huschen würde. »Mädchen«, sagte er leise. »Der jüngste Mörder, der vor mir gesessen hat, war genauso alt.«
Sabrina schluckte.
»Wehret den Anfängen«, sagte der Richter, als ob er seine Härte entschuldigen wollte. »Man muss viel früher ansetzen. In dem Alter ist es oft schon zu spät.« Er stand auf. »Unten am Alten Krahnen feiern sie nachts. Überall liegen Scherben herum, Müll und Papier. Keiner unternimmt etwas. Alle schauen weg. Damit fängt es doch an. Wie kann man diese jungen Menschen von der Straße holen? Sag du es mir.«
Sabrina folgte dem alten Mann hinaus in den Flur. »Vielleicht, indem man ihnen ein Zuhause gibt«, antwortete sie leise. Zu leise, als dass es der Richter gehört hätte. Sie räusperte sich. »Eine Frage noch: Erinnern Sie sich an die Namen?«
»Namen? Von diesen Tagedieben, die nie gearbeitet haben und kaputt machen, was Generationen aufgebaut haben?«
»Nein, nein«, beschwichtigte ihn Sabrina. Lieber Himmel, der Richter war aber auch eine wirklich harte Nummer. »Von dem Täter. Oder dem Schiff.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«
Er brachte sie noch bis zur Wohnungstür und hielt sie ihr auf. Sabrina wollte sich gerade verabschieden, da legte er plötzlich seinen Zeigefinger an die Stirn.
»Halt. Der Lastkahn. Daran erinnere ich mich. Er hieß … Sehnsucht. Und ich weiß noch, was ich dachte, als ich das zum ersten Mal gehört habe.«
»Ja«, flüsterte Sabrina. »Was für ein schöner Name für ein Schiff.«
Wie betäubt stieg sie die Treppen hinunter. Der letzte Satz des Richters dröhnte in ihrem Kopf wie ein bronzener Glockenschlag. Sehnsucht. Konnte das denn alles Zufall sein? Das gleiche Schiff, der gleiche Mord … Etwa auch der gleiche Täter?
Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und sah noch einmal nach oben. Der Richter hatte die Tür geschlossen. Er hatte ihr das gesagt, was er wusste. Oder besser: Das, was seine Erinnerung aus diesem Fall gemacht hatte. Ein schreckliches Verbrechen, das in seinen Augen vorhersehbar gewesen war.
Sabrina atmete tief durch, als könnte sie damit die Zentnerlast, die plötzlich auf ihrer Brust ruhte, erträglicher machen. Amelies Tod war nicht vorhersehbar gewesen. Er hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was vor acht Jahren passiert war. Und trotzdem …
»Hey, gehst du schon?«
Erschrocken fuhr Sabrina herum. Beate stand am Ende des Flurs, der von der Treppe abging.
»Ja, ich will euch nicht länger stören.«
»Tust du nicht. Komm rein. Ich hab gerade Tee gekocht.«
Beates Zimmer war groß und erkennbar teuer eingerichtet. Dennoch war es ihr gelungen, es mit vielen Schals, Tüchern, Kissen und Postern sehr gemütlich zu machen. Auf einem niedrigen runden Tisch, der wie eine Trommel aussah, stand eine Teekanne. Beate ging zu einem Wandbord und holte zwei Gläser herunter.
»Ich bekomme nicht viel Besuch«, sagte sie. »Wenn sogar schon der eigene Großvater beliebter ist …«
Mit einem Grinsen goss sie die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die Gläser. Sabrina sah sich um. Beate musste ein genauso großer Bücherwurm sein wie der Richter. Die ganze Stirnseite der Wand war mit Regalen vollgestellt und bis an die Decke reihte sich ein Band neben dem anderen.
»Du liest wohl viel?«, fragte sie.
Beate nickte. »Ich mag Bücher. Das sind Freunde, die einen nie im Stich lassen.«
»Hm«, machte Sabrina und fragte sich, wie Beate das meinte. Im Sommer, auf dem Marktplatz, hatte sie sich offenbar im Kreis von Janines kicherndem
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