Lilienblut
Prosa? Ich mag seine Kurzgeschichten. Auf die Idee muss einer erst mal kommen, sein Tagebuch ›Den Göttern kommt das große Kotzen‹ zu nennen. Hier. Kennst du das?« Sie zog ein schmales Buch aus dem Regal und setzte eine Brille auf, die so hässlich und altmodisch war, dass sie schon wieder als cool durchgehen könnte. »›Gedichte, die einer schrieb, bevor er im 8. Stock aus dem Fenster sprang‹. Krass.«
»Nein danke.« Sabrina lächelte unsicher. »Ich hab’s nicht so mit Tod im Moment.«
»Alles klar.« Beate stellte das Buch wieder zurück und nahm die Brille ab. »Was wolltest du eigentlich von meinem Großvater?«
Sabrina setzte sich wieder und trank den Rest ihres kalt gewordenen Tees aus. Sie kannte Beate nicht. Offenbar hatte niemand näher mit ihr zu tun. Sie war ein ziemlich schräger Vogel, aber das bedeutete nicht, dass sie ihr auch vertrauen konnte. »Ich hatte eine Frage zur Stadtgeschichte.«
»Das glaubst du doch selber nicht. Ich erfahre es so oder so. Er wird es mir sicher beim Abendessen erzählen.«
Sabrina erschrak. Wenn das stimmte und Beate nicht dichthielt, würde innerhalb kürzester Zeit ganz Andernach wissen, dass sie sich für die Vorfälle am toten Fluss mehr interessierte, als sie es sollte.
»Hey, keine Sorge. Nichts, was in diesem Haus erzählt wird, dringt nach außen. Wir sind auch in punkto Diskretion die Nummer eins.«
Sabrina atmete auf. »Danke. Ich will nicht darüber reden. Noch nicht. Es hatte was mit Amelie zu tun, und …«
Bevor sie sich um Kopf und Kragen reden konnte, klopfte es an der Tür, und eine junge Frau, kaum älter als Sabrina und Beate, kam herein.
»Ich kann abräumen?«
»Klar. Sabrina, das ist Florence, unser Au-pair.«
Das Mädchen hatte ein Tablett dabei und stellte nun die Kanne und die Gläser darauf.
»Bonjour«, sagte Sabrina.
»Oh, Sie sprechen Französisch?«
»Nur ein bisschen, grade mal so.«
Beate reichte Florence die Zuckerdose. »Vielleicht solltest du mal über einen Schüleraustausch nachdenken. Ich war letztes Jahr in den USA. Das hat meinem Englisch mehr als gut getan.«
Sabrina, die genau wusste, wie Franziska auf diese Frage reagieren würde, schwieg. Als Florence gegangen war, stand sie auf und nahm ihre Tasche. »Danke für den Tee. Ich muss jetzt.«
»Werde bloß nie Au-pair.«
Verwundert sah sie Beate an.
»Ich hatte fünf, bis ich neun war. Dann habe ich mir geschworen, keine einzige mehr zu mögen. Fünfmal jemanden verlieren, den man geliebt hat … Ich glaube, Eltern machen sich darüber falsche Vorstellungen.«
»Oh.« So hatte Sabrina das noch nie gesehen. Ob Beate sich deshalb entschieden hatte, Gesellschaft lieber zu erkaufen statt Gefühle zu investieren?
In der großen Eingangshalle verabschiedeten sie sich.
»Wenn du magst, lade ich dich nächste Woche in Neuwied mal zum Mittagessen ein.«
»Lass mal.« Sabrina lächelte. »Aber komm doch mal zu uns
nach Leutesdorf. Am Wochenende vielleicht. Wir können jede Hand gebrauchen.«
Sie sah, wie Beate einen Moment zögerte. »Sieh es als geldwerte Leistung.«
Beate grinste. »Na dann.«
FÜNFZEHN
Franziska war an diesem Abend richtig sauer. Solange Kjell und Andres in der Nähe waren, riss sie sich zusammen. Kaum hatten die beiden sich aber zurückgezogen, kam das Donnerwetter.
»Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Ich hatte dich gebeten, wenigstens ab und zu mal mitzuhelfen. Es ist die wichtigste Zeit des Jahres und du treibst dich Gott weiß wo herum!«
Sabrina presste die Lippen aufeinander. Das Jahr bestand für ihre Mutter aus einer permanenten Aneinanderreihung wichtigster Zeiten. Sie hatte schon genug geschuftet. Im Moment war Amelie wichtiger. Aber das konnte sie Franziska nicht sagen.
»Wo warst du heute?«
»Beim Richter. Ich hatte eine Frage zur Stadtgeschichte, für die Schule. Und wenn er einmal anfängt zu reden, hört er nicht mehr auf.«
»Beim Richter.« Irgendwie schien Franziska das zu beruhigen. Wahrscheinlich, weil die Gramanns eine genauso wunderbare Familie waren wie die Kreutzfelders, dachte Sabrina verbittert. Da sieht man gerne darüber hinweg, dass ihre Kinder sich Freunde kaufen und dass sie ihr Au-pair öfter sehen als die Eltern. »Beim alten Gramann? Mein Gott, unter dem habe ja ich schon gelitten! Ist er immer noch so schlimm mit seinen Ansichten zu Recht, Ordnung und Sauberkeit?«
»Schlimmer«, antwortete Sabrina. Sie räumte das Geschirr ab. »Und dann habe ich mich noch mit Beate unterhalten. Mit
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