Lilienblut
Tagebuch hervor. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über das glitzernde Einhorn. Amelie, sag du es mir. Was soll ich machen?
Sie schaute an die Decke, schlug die Seiten auf und tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier.
Du fühlst es, wenn es richtig ist. Dann gibt es keine Zweifel und kein Zögern. Du fühlst es einfach. Und du weißt, welchen Weg du gehen musst.
Sabrina schlug das Buch zu. Sie fühlte, dass es richtig war, vor Lukas nicht davonzulaufen.
SIEBZEHN
Als Sabrina zum zweiten Mal die »Sonne« betrat, war es früher Abend. Irgendein Fernsehsender übertrug die Spiele der Fußballbundesliga. Es waren mehr Leute da als beim letzten Mal, aber die beiden Männer, die so merkwürdige Andeutungen über den Fluss und die Sehnsucht gemacht hatten, fehlten.
Dafür stand Willy am Tresen, ein schales Bier vor sich und die Zigarette in der Hand. Er tat so, als ob er der Sportreportage zusehen würde. In Wirklichkeit aber war sein Blick in weite Ferne gerichtet. Weiter als Fußballstadien, weiter als Tore und jubelnde Fankurven, er verlor sich irgendwo im Unendlichen, und als Sabrina zu ihm trat, fiel ihr auf, wie mager und klein Willy war. Der Tod seiner Tochter schien auch noch den letzten Funken Leben in ihm zum Verlöschen gebracht zu haben. Während sie neben ihm stand und darauf wartete, dass er sie erkennen würde, hatte sie plötzlich unendliches Mitleid mit ihm.
Willy wusste, dass Amelie sich für ihn geschämt hatte. Für ihn und Wanda und das Waldviertel. Er wusste, dass sie nicht hiergeblieben wäre und dass er nun nie mehr erleben würde, wie sie vielleicht anderswo glücklich geworden wäre. Er hatte das Ende der Sackgasse erreicht. Niemand war mehr da, auf den er stolz sein konnte. Niemand, der vielleicht seine Träume eines Tages gelebt hätte.
»Hallo«, sagte Sabrina leise.
Willy reagierte nicht. Er starrte weiter auf die flimmernden bunten Bilder, ohne etwas wahrzunehmen.
»Ich wollte mal fragen, wie es Ihnen so geht. Ihnen und Wanda.«
Willy löste seinen Blick von dem Bildschirm an der Wand,
doch er sah Sabrina nicht an. Er drehte das Bierglas einmal, zweimal um sich selbst. Dann ließ er es wieder stehen. »Wie soll es schon gehen?«
Seine Stimme klang überraschend nüchtern. Viel hatte er also noch nicht getrunken, und das erleichterte Sabrina sehr.
»Brauchen Sie Hilfe? Soll ich mal nach Wanda sehen?«
»Bist ein braves Mädchen. Danke. Wir schaffen das schon.«
»Willy … Herr Bogner …«
»Sag ruhig Willy zu mir. Du warst eine gute Freundin von Amelie. Eine gute.« Er täschelte ihre Hand.
»Hat die Polizei schon etwas herausgefunden? Mir müssen sie nicht alles sagen. Ich bin ja leider keine Angehörige.«
Er schüttelte den Kopf. Der Wirt trat an den Tresen und sah sie auffordernd an.
Sabrina bestellte eine Apfelschorle und deutete in die Ecke neben der Tür. »Beim letzten Mal haben da hinten zwei Männer gesessen. Berti und noch einer. Wo sind die?«
Mühsam, als ob ihn diese Bewegung viel Kraft kosten würde, drehte sich Willy um und schaute in Richtung Tür. »Berti? Hab ich schon seit ein paar Tagen nicht gesehen. – Weißt du, was mit Berti ist?«
Der Wirt stellte Sabrinas Schorle vor ihr ab. »Jetzt, wo du’s sagst … Nee, keine Ahnung. Vielleicht isser krank?«
»Vielleicht ist er krank?«, wiederholte Willy. Er sah Sabrina zum ersten Mal an. Seine Augen waren rot und entzündet. Offenbar kam er gar nicht mehr an die Luft. Die Tage in der »Sonne« konnten verdammt dunkel sein.
»Und der andere? So ein kräftiger Bär, der hat neben ihm gesessen.«
»Günni.«
»Ja, Günni. War der in den letzten Tagen hier?«
Der Wirt kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Warum willst du das wissen? Was schnüffelst du hier eigentlich herum?«
»Langsam, langsam.« Willy hob beschwichtigend die Hand. »Die Kleine ist in Ordnung. Eine Freundin von Amelie.«
»Ach so. Na dann.« So richtig zufrieden machte diese Antwort den Wirt auch nicht.
»Wo finde ich sie denn? Günni und Berti.«
»Berti wohnt oben im vierten Stock. Direkt über uns. Von Günni hab ich keine Ahnung. Früher mal hat er unten hinter der Stadtmauer gewohnt, in so einem Fünfzigerjahre-Bau. War nah am Hafen. Da hat er gearbeitet. War ein Kumpel. Ja.«
Sabrina trank vorsichtig einen Schluck Apfelschorle. Das Glas klebte, und sie musste sich überwinden, das labberige Zeug nicht gleich wieder auszuspucken. »Was hat er denn gemacht?«
»Das Gleiche wie Berti. Bunkern. Tagelöhner. Hat nie
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