Lilienzucht (German Edition)
ermöglichen.
Josie lässt sich Zeit. Vorsichtig lässt sie die Augäpfel unter den Lidern rollen, um sie ein wenig zu befeuchten und sie wieder an normales Tageslicht zu gewöhnen, dann erst öffnet sie langsam die Augen. Es dauert einen Moment, bis sie wieder scharf sehen kann, doch was sie dann sieht, verschlägt ihr buchstäblich die Sprache. Leise nach Luft schnappend schaut sie die hübsche Frau im Spiegel an, die sie zunächst kaum als ihr eigenes Selbst erkennen kann. Ihre Haare sind kurz und leicht asymmetrisch geschnitten, die Spitzen am Oberkopf feuerrot gefärbt und der Pony fällt locker und fransig auf ihre Stirn. Ihr Gesicht sieht entspannter und frischer aus, als sie es je zuvor gesehen hat, jedenfalls kommt es ihr so vor.
Sekundenbruchteile später kullern große, helle Tränenperlen ihre Wangen hinunter. Die anderen halten entsetzt die Luft an ob ihrer Reaktion, Victor runzelt sogar betroffen die Stirn und erhebt sich aus seinem Sessel.
Als Josie ihn durch den Tränenschleier hindurch endlich erkennt, breitet sich urplötzlich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus, während die Tränen unaufhaltsam weiterlaufen. „Woher wusstest du...?“, beginnt sie stockend und mit belegter Stimme, während sie sich in einer irgendwie ungeduldig wirkenden Geste das salzige Wasser aus dem Gesicht wischt.
Victor schaut sie verständnislos an und fragt nur: „Was meinst du?“
„Ich...“ Josie wischt sich noch einmal übers Gesicht und atmet entschlossen durch. „Ich versuche seit über einem Jahr, einen Frisör dazu zu bringen, mir endlich mal einen modernen Schnitt zu verpassen. Es war schon schwierig, sie überhaupt auf Schulterlänge kürzen zu lassen.“ Sie bricht unvermittelt in erleichtertes Gekicher aus. „Es wäre doch eine Schande um das schöne Haar, haben sie immer gesagt ... und spätestens wenn sie meinen Namen gehört haben, war es vorbei. – ‚Eine adelige Lady und so ein provokantes Aussehen?!’, hieß es und an Farbe war da schon gar nicht zu denken...“ Erneut muss sie lachen, die Tränen sind nun endgültig versiegt. Vergnügt zwinkert sie Leon zu, ... zumindest geht sie davon aus, dass er es ist. „Ich hatte wohl einfach kein Händchen für den richtigen Stylisten. Mein Fehler. Vielleicht hätte ich auch nicht ausgerechnet meine Schwägerin um Hilfe bitten sollen; es wäre ihr durchaus zuzutrauen, dass sie die Salons vorher instruiert hatte...“
„Nun“, gibt Leon vorsichtig zu bedenken, „ich kann es durchaus verstehen, dass ein Frisör Skrupel hat, ihre Haare so rigoros zu kürzen. Sie sind nämlich wirklich außergewöhnlich schön, nicht nur diese ungewöhnlich seidige und trotzdem kräftige Struktur, auch die Farbe ist eine Augenweide. Darum auch nur diese kleinen, kräftigen Akzente an den Spitzen. – Wir hatten nur den Vorteil, im Vorfeld Fotos von Ihnen zu sehen und nach allem, was Lord Croydon von Ihnen erzählt hat, war schnell klar, dass diese vergleichsweise langweilige Frisur Ihnen in keiner Weise gerecht wird.“
Josie ist ein wenig verblüfft über so deutliche Worte und wird unwillkürlich ein wenig rot, doch sie geht darüber hinweg und bedankt sich herzlich bei allen.
Erst eine Stunde und einige Gläser Champagner später sind sie wieder aus dem Salon heraus und steigen gut gelaunt in die wartende Limousine.
19 Notstand
Kaum ist die Wagentür geschlossen, da bricht Victor in ausgelassenes Gelächter aus.
Josie schaut ihn verständnislos an und fragt sich ernsthaft, ob sie irgendetwas verpasst hat...
„Ich habe Jeffrey in meinem ganzen Leben noch nie so überrascht gesehen.“, erklärt er schließlich, während er sich eine Lachträne aus dem rechten Augenwinkel wischt. „Das ich das noch erleben darf!“ Leise glucksend schüttelt er den Kopf. „Vielleicht solltest du wissen, dass er ein sehr aufmerksamer Beobachter ist. Er bekommt sogar mit, wenn Mary ihre Haarnadeln anders als sonst in der Frisur verteilt. Aber das hier hat ihn offenbar völlig umgehauen.“
„Eigentlich hatte ich nicht den Eindruck, dass er besonders überrascht war.“, findet Josie.
„Glaub mir, ich kenne ihn lange genug, um das beurteilen zu können.“, meint Victor grinsend. „Es hat nicht viel gefehlt und ihm wäre ein deutlich vernehmbares ‚WOW!’ raus gerutscht. – Gratuliere, meine Liebe, das hat noch nicht mal Mary geschafft; jedenfalls bisher nicht.“
Josie zuckt leicht die Schultern. „Wenn du meinst...“
„Das tue ich, Josephine.“, bekräftigt
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