Lilith Parker, und das Blutstein-Amulett (German Edition)
mit den Nährstoffen des fremden Blutes versorgt wurde, begann ein beschleunigter Alterungsprozess einzusetzen.
»Nikolai!« André sprang auf und runzelte beim Anblick der ernsten Miene seines Bruders die Stirn. »Ist etwas mit Vater?«
Im Gegensatz zu André durchzogen schon weiße Strähnen Nikolais dichtes schwarzes Haar und die ersten Falten zeichneten sich um Augen und Mund ab. Seine Haltung war stolz und aufrecht, sodass er größer und sehr präsent wirkte.
Erst als André neben ihm stand und Nikolai zu ihm aufsehen musste, fiel Lilith der Größenunterschied auf.
André erinnerte sich an seine Rolle als Gastgeber und stellte sie in aller Eile einander vor. Nikolai begrüßte die Besucher trotz der angespannten Stimmung ausgesucht freundlich und dankte ihnen für ihr Kommen. Einzig bei Matt, der sich – seit das Thema auf Vadims Gesundheitszustand gefallen war – diskret im Hintergrund hielt, konnte Nikolai seine Überraschung nicht verbergen. Der Besuch eines Sterblichen verblüffte ihn offensichtlich noch mehr als seinen Bruder.
»Wie geht es Vater?«, fragte André erneut. Als er Nikolais Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Sie wissen Bescheid, ich habe ihnen von Vaters Krankheit erzählt. Du kannst frei sprechen!«
Nikolai nickte, seufzte auf und fuhr sich mit der gleichen Handbewegung durchs Haar, die Lilith schon bei André beobachtet hatte. »Während du weg warst, hatte Vater wieder einen Anfall und die Ärzte meinen, dass er dringend Ruhe benötigt«, erzählte er mit einer beherrschten, kultiviert klingenden Stimme. »Sie haben ihm gerade ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und er wird voraussichtlich bis morgen früh schlafen.«
André war sichtlich enttäuscht. »Dann müssen wir wohl noch warten, bis ich Lilith und Rebekka zu ihm bringen kann.«
Hinter sich hörte Lilith ein seltsames Kratzen, gefolgt von einem Geräusch, das wie zerreißender Stoff klang. Sie sah über die Schulter, konnte aber nichts entdecken.
»Was hat dieses Mal Vaters Anfall ausgelöst?«
Nikolais Miene verdüsterte sich noch mehr. »Er sagte, der Sensenmann käme auf ihn zu und er könne genau den verrinnenden Sand seiner Lebensuhr erkennen. Er war völlig außer sich und schrie, der Inhalt wäre nur noch ausreichend für ein oder zwei Tage. Seine Krankheit scheint ein neues Stadium erreicht zu haben, bei dessen rasantem Verlauf wir das Schlimmste befürchten müssen.«
Das Schweigen, das nun folgte, wog so schwer, dass Lilith automatisch die Luft anhielt, um nur keinen Laut zu verursachen. So schwerfällig und erschöpft wie ein alter Mann ließ André sich neben Rebekka auf das Sofa fallen.
»Ein oder zwei Tage …«, wiederholte er leise.
Rebekka legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wenn er unter Halluzinationen leidet, bedeutet das doch nicht, dass in diesem Zeitraum tatsächlich etwas Schreckliches geschieht. Vielleicht lässt sich Vadim von mir überzeugen, dass er einem Trugbild aufgesessen ist, und findet zurück in die Realität.«
Trotz Rebekkas gut gemeinten Worten entging Lilith nicht, dass sie im Singular gesprochen hatte: Wenn eine Banshee Vadim zur Genesung verhelfen würde, so ging Rebekka wie selbstverständlich davon aus, dass sie die strahlende Retterin in der Not wäre. Liliths Groll mischte sich jedoch auch mit einem nagenden Gefühl der Sorge. Was wäre, wenn Vadims Prophezeiung stimmte und er tatsächlich in Gefahr schwebte? Dann hätte es fatale Folgen, dass sie ihm keinen Glauben schenkten. Seit Lilith nach Bonesdale gekommen war, hatte sie schließlich gelernt, dass selbst das scheinbar Unmögliche möglich war.
»Du hast recht, ich darf mich nicht in seine Welt hineinziehen lassen!« André atmete tief durch, um seine Fassung zurückzugewinnen, und legte dankbar seine Hand über Rebekkas. »Schauen wir nach vorne und hoffen, dass sich Vater von euch umstimmen lässt und dieser Albtraum bald ein Ende hat.«
Nikolai nickte zustimmend. »Gleich morgen früh bringen wir euch zu ihm!«
Aus den Augenwinkeln sah Lilith, wie in dem Sofaspalt zwischen Lehne und Sitzfläche exkrementenbraune Wurstfinger auftauchten und sich langsam in Aurels Richtung tasteten. Der Kater schlief tief und fest und schien von der nahenden Gefahr nichts zu ahnen. Der Anblick der scheinbar körperlosen Dämonenhand wäre gruslig gewesen, wenn Lilith nicht genau gewusst hätte, wem sie gehörte. Es war wieder einmal typisch für Strychnin, dass er nicht eine Spur von Feingefühl besaß und ausgerechnet
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