Lilith Parker
war. Gerade sollte sie noch verbannt werden und jetzt war das Urteil plötzlich aufgehoben?
Belial sprang mit wutverzerrtem Gesicht von seinem Stuhl auf. »Ihr wollt sie freisprechen? Nur aufgrund der Aussage dieses senilen Vampirs?«
»Es stimmt aber!«, bemerkte Olubayo. Er stand hinter Fayolas Thron und hielt ein aufgeschlagenes Gesetzbuch in Händen. »Hier steht es genau so, wie der Träger des Blutstein-Amuletts es zitiert hat.«
»Aber wir haben sie bereits schuldig gesprochen!«
»Wenn ich an deiner Stelle wäre, Belial, würde ich mich über diese Immunitätsklausel lieber erfreut zeigen«, entgegnete Fayola mit drohendem Unterton. »Andernfalls könnten wir auf die Idee kommen, uns mit Liliths und Mildreds Zeugenaussage noch einmal näher zu befassen.«
Er kniff die Lippen zu einem schmalen Spalt zusammen und Lilith konnte sehen, wie sich die Muskeln in seinem Kiefer anspannten. Unvermittelt fuhr er herum und marschierte auf sie zu.
»Es ist noch nicht zu Ende«, sagte er. »Heute abzutreten, wäre für dich der angenehmere Weg gewesen, das kann ichdir versprechen. Jetzt wirst du noch sehr viel mehr leiden müssen.«
»Was ⦠was soll das heiÃen?«
Er kam noch näher an sie heran. »Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst. Ich bin mächtiger, als du es dir vorstellen kannst, und weià Dinge, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.«
»Ach ja?«, entgegnete sie so selbstbewusst wie möglich. »Und was zum Beispiel?«
»Ich weiÃ, was in der Todesnacht deiner Mutter geschehen ist«, raunte er ihr ins Ohr, sodass nur sie es hören konnte. »Und ich weiÃ, warum das Bernstein-Amulett bei dir kaum leuchtet, Lilith. Deine Tante hat dich als Hoffnung der Nocturi bezeichnet, doch du bist es, die das Symbol deines Volkes schwächt. Du entziehst dem Bernstein seine Kraft.«
»Könntest du deine Nettigkeiten bei jemand anderem loswerden, Erzdämon?« Mildred drängte ihn beiseite und zog Lilith zu sich heran. »Wir wollen jetzt einen Freispruch feiern!«
»Ich war sowieso lange genug hier«, zischte Belial und verschwand ohne ein weiteres Wort in Richtung des Portals. Einen Augenblick lang war Lilith versucht, ihm nachzulaufen. Was hatte er damit gemeint? Wieso sollte sie dem Bernstein seine Kraft entziehen? Und woher wusste er, wie ihre Mutter gestorben war?
»Hör nicht auf ihn«, meinte Mildred. »Lass dich lieber von mir umarmen! Ich bin so glücklich, dass du bei uns bleiben wirst.«
Mildred drückte sie an sich und gab gerührte Schnieflaute von sich, während Liliths Blick auf Scrope ï¬el, der immer noch in seinem Stuhl saÃ. Er schien vom Ausgang der Verhandlung nicht so enttäuscht zu sein, wie sie erwartet hatte. Im Gegenteil, er lehnte sich zurück und faltete entspannt die Hände über dem Bauch.
Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, warum. Sie schloss gequält die Augen â die Sache war längst noch nicht überstanden. Sie hatte Scrope unterschätzt. Wahrscheinlich hätte er sie liebend gerne heute Nacht von der Insel verbannt, doch er hatte schon längst einen Ersatzplan vorbereitet. Einen Plan, bei dem er am Ende als Retter der Nocturi und Lilith als Betrügerin dastehen sollte.
»Auf manche Dinge erhalten die Lebenden keine Antwort. Deswegen klammert sich die Menschheit an ihre wissenschaftliche Welt, an ihre Technik und ihre Vernunft. Andere wiederum flüchten sich in Glaube und Religion, die sie am Ende jedoch nur entzweien und sich gegenseitig bekriegen lassen. Dabei verlieren sie ihren wahren Ursprung aus den Augen: Sie sind nicht mehr eins mit der Natur, missachten ihren Nächsten, ignorieren den Ruf ihrer Seele. Sie verleugnen, dass es eine Wahrheit gibt, die sie spüren, doch noch nicht erfassen können, eine Wahrheit, die schon im Augenblick der Geburt in uns allen verborgen liegt und uns erst mit dem Tod enthüllt wird â denn auf manche Dinge erhalten die Lebenden keine Antwort.«
Geheimer Auszug aus »Grimoire der Untoten«,
Neuauflage von 2010
D rauÃen schneite es, im Kamin prasselte ein Feuer und auf dem Adventskranz, der mit kleinen Kürbissen, Spinnennetzen und glitzernden Fledermäusen geschmückt war, brannten drei orangefarbene Kerzen. Liliths Gerichtsverhandlung lag nun schon fast zwei Wochen zurück und Weihnachten rückte immer
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