Liliths Kinder
Hoffnung und Mut gediehen.
*
Wieder und wieder hatte Lilith den alten Mann nach dem Ziel ihrer nächtlichen Wanderung gefragt. Aber Copan hatte ihr nicht ein einziges Mal darauf geantwortet, nicht einmal ausweichend.
Ganz kurz hatte Lilith einmal daran gedacht, ihn mit ihrer suggestiven Kraft schlicht zu zwingen, ihr zu verraten, wohin er sie führte. Doch hatte sie den Gedanken wieder verworfen, kaum daß er ihr gekommen war. Sie würde niemanden zu etwas nötigen, was er nicht aus freien Stücken zu tun bereit war. Denn die neue Ordnung, die sie in Mayab geschaffen hatte, galt auch für Lilith selbst. Kein Mensch sollte mehr erniedrigt werden, in keiner Weise - weder von ihr noch durch ihre Kinder.
Bis diese Ordnung sich jedoch durchgesetzt haben würde, das mochte noch einige Zeit dauern. Eine Welt, und war sie auch nur von der Größe Mayabs, ließ sich nicht von heute auf morgen verändern. Was in Jahrhunderten gewachsen und mithin tief verwurzelt war - Traditionen, Sitten und Lebensart -, konnten Worte und Wohlmeinen nicht vergessen machen.
Und so konnte Lilith, als sie hinter Copan dahinschritt und an den Hütten vorüberging, die stets präsente Furcht der Menschen spüren, als würden ihre Alpträume die Ziegelmauern durchdringen und die Nacht über Mayab erfüllen.
Auf eine der Hütten hielt Copan schließlich zu. Selbst im Dunkeln erkannte Lilith, daß die etwas abseits gelegene Behausung ein wenig vernachlässigt aussah, als kümmere sich deren Eigentümer wenig um Äußerlichkeiten - oder als fehle ihm die Kraft, die notwendigen Renovierungsarbeiten selbst auszuführen.
»Ist dies deine Hütte?« fragte Lilith.
Der alte Mann hatte die Tür schon erreicht, öffnete sie und wies mit einladender Geste über die Schwelle.
»Sei mein Gast«, sagte er knapp und mit dünnem Lächeln.
Seine Freundlichkeit klang - Lilith konnte sich des Eindrucks nicht erwehren - übertrieben und aufgesetzt.
Etwas wie ein winziges Glöckchen schien in ihrem Hinterkopf zu läuten. Das davon ausgehende Gefühl beunruhigte sie, und eine eigenartige Spannung befiel sie mit einemmal.
Was hast du? Angst? beruhigte sie sich selbst. Wie sollte dieser alte Mann dir gefährlich werden können? Was sollte er schon im Schilde führen? Und vor allem: aus welchem Grund? Mach dich nicht lächerlich ...!
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Liliths Lippen.
In der Tat - weshalb sollte sie Copan fürchten? Vielmehr schien er Angst vor ihr zu haben. Vor einigen Tagen noch, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie sogar offen gezeigt.
»Ich danke dir«, sagte Lilith endlich, bemüht ruhig, und trat an dem alten Mann vorbei in dessen Hütte.
Sie unterschied sich kaum von den anderen. Die Einrichtung war so schlicht wie zweckmäßig, der Boden bestand aus festgestampftem Lehm. Allenfalls schien ihr das Mobiliar in Copans Hütte, wie schon deren Äußeres, abgenutzter, älter eben als anderswo.
»Nimm Platz«, bat Copan und deutete hin zu dem Tisch, der in der Mitte des einzigen Raumes stand. Darum gruppierten sich vier nicht sonderlich stabil wirkender Hocker. Entsprechend vorsichtig ließ Lilith sich auf einem davon nieder, derweil Copan zu der Feuerstelle unweit des Tisches ging und die glosende Glut darin mit dürrem Geäst fütterte. Augenblicklich leckten Flammen in die Höhe und tauchten das Innere der Hütte in flackernden Schein.
»Nun, was hast du mir zu erzählen?« fragte Lilith schließlich geradeheraus. Längst war sie zu gespannt, als daß sie noch lange um den heißen Brei herumreden wollte.
»Oh, nicht so eilig«, entgegnete Copan, wieder mit diesem seltsamen Lächeln. »Wenn ich schon einmal solch hohen Besuch in meiner alten Hütte empfangen darf, dann möchte ich ihn doch wenigstens angemessen bewirten, nicht wahr?«
Liliths Haltung wirkte mit einemmal angespannt. Copan bemerkte es und lächelte erneut, beruhigend diesmal und auf schwer in Worte zu fassende Weise echter. Mit seiner von Altersflecken gesprenkelten Hand vollführte er eine beschwichtigende Geste.
»Keine Sorge«, sagte er, als ahne er Liliths Gedanken. »Ich möchte dir nur etwas zeigen.«
Er kramte kurz in einem Wandregal, dann trat er an den Tisch, stellte eine flache Tonschale darauf ab. In der rechten Hand hielt er ein uraltes Messer mit schartiger Klinge.
Und die zog er sich, ohne jedes weitere Wort, über das Gelenk seiner Linken! Die Haut klaffte auf unter dem Schnitt - - aber es floß kein Blut, nicht der geringste
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