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Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Titel: Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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lebendigen Stein, einem wiedererweckten Fossil.
    Steinbeck mußte daran denken, wie sehr sie sich während der Schießerei am Vortag gewünscht hatte, jener kleine, anmutige Vormensch namens Lucy zu sein. So eine Lucy war sie jetzt. Eine Lucy, die durch die Nacht marschierte und sich dabei an ihrem Weggefährten festhielt. Wie wunderbar das war, dieser sternenlosen Nacht mit ihren möglichen Schrecken in naturgegebener Zweisamkeit zu begegnen. Lucy und … ja, Lucy und Tom. Dieser männliche Australopithecus afarensis mit seiner kräftigen Schulter hieß Tom. Tom, der so überaus geschickt einen davoneilenden Hasen zu packen verstand, ihn mit seinem kräftigen Gebiß portionierte und dabei stets die besten Stücke Lucy überließ. Tom war der erste Gentleman, den die Welt sah. Was danach kam, war leider ein Abstieg. Das wird gerne übersehen, diese gewisse Rückläufigkeit in der Evolution. Krokodile, die kleiner werden, Vögel, die das Fliegen verlernen, Gentlemen, die keine mehr sind. Tom aber … Eine Türe ging auf. Licht fiel herein. Dummes Licht, pickelig, Riesenpickel. Dieses Licht zerstörte alles. Drei Millionen Jahre rasten im Bruchteil einer Sekunde dahin. Aus Tom wurde Stavros, ein schöner Mann, mag sein, aber kein Partner, mit dem man durch die Savanne ziehen und im übrigen glücklich sein konnte. Auch die Frau, die Lucy gewesen war, zerfiel augenblicklich zu Staub. Zurück blieben ein paar Knochen, die man interpretieren und ausstellen konnte.
    Aus den beiden Vormenschen waren Polizisten geworden, die sich nicht mehr den Schrecken der Nacht widersetzten, sondern den Schrecken einer kranken Welt. Erneut rief Stirling nach Kallimachos. Doch niemand meldete sich. Der Wohnraum lag in einem bräunlichen, nebeligen Licht, das aus einem Hinterhof stammte, wie man sagt, jemand stamme aus schlechten Verhältnissen. Das Geprassel des Regens schien hier milder, ferner. Überall lagen oder hingen Teppiche, schwere, dicke, staubige Dinger, die jedes Geräusch schluckten. Selbst die Möbel waren damit bezogen. Es roch nach getrockneten Blüten.
    Im ersten Moment konnte man glauben, dies sei der einzige Raum der Wohnung, doch bei genauer Betrachtung ließen sich auf den gegen die Wand genagelten, gemäldeartig nachgedunkelten Persern die Umrisse zweier Türen erkennen. Die schmälere führte auf eine in gleicher Weise tapezierte, winzige Toilette. Kaum vorstellbar, daß Kallimachos darin einigermaßen Platz fand. Die andere Türe war verschlossen. Ein bittender Blick Steinbecks genügte. Stavros runzelte die Stirn, zog jedoch erneut sein Bein an und öffnete mit einem weiteren Tritt eine weitere Pforte. Hinter dieser befand sich …
    Man sollte vielleicht erwähnen, daß Lilli Steinbeck in diesem Moment – immerhin keine stark behaarte Lucy mehr – ein knielanges, in Papageienfarben schillerndes Sommerseidenkleid von Dolce & Gabbana trug, welches ihren Körper eher umwehte als sonst was. So wenig dieses Kleid als materialer Schutz diente, so sehr als ästhetischer. Und damit auch als seelischer. Darin besteht nämlich die heutige Funktion von Kleidung. Uns gegen das Häßliche in der Welt zu wappnen. Uns – so weit als möglich – schön zu machen, eine sichtbare Lieblichkeit oder Eleganz über unser Herz zu stülpen. Es sind also gar nicht so sehr die anderen, die wir zu blenden versuchen, sondern vor allem uns selbst.
    Etwas Blendung hatte Lilli Steinbeck auch bitter nötig, als sie nun nach einem Schalter neben der Türe griff und sodann mehrere Spots ansprangen, die den hohen, weiten Raum erhellten, dessen Fensterläden geschlossen waren. Die Wände waren gepflastert mit Fotografien, welche in üppig dekorierte, meist mit Blattgold versehene Prachtrahmen gefügt waren und in der Art einer altniederländischen Galerie dicht an dicht und bis zum Plafond hin gehängt waren. Diese Fotos, die aus allen Epochen der Fotografie stammten und bei denen es sich zumeist um dokumentarische Aufnahmen zu handeln schien, waren einem einzigen Thema gewidmet: Folter.
    Folter in jeder Form.
    Unmöglich, dafür Worte zu finden. Ja, das war vielleicht das Problem, daß man im Falle all dieser Geschehnisse – der halboffiziellen einer Staatsräson genauso wie der privaten Schändungen im Rahmen eigener vier Wände – ohne die passende Sprache dastand. Ohne Gedicht, ohne Roman. Sicherlich, es wurde darüber geschrieben, darüber berichtet. Aber nie fand jemand die geeigneten Worte, die das Schreckliche hätten bannen können.

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