Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
ausgewaschenen, schlabberigen Trainingsanzug, was nichts daran änderte, daß man ihr sofort zutraute, die wichtigste Person in dieser Stadt zu sein. Aber was war schon eine einzelne Stadt? Darin unterschied sich diese Frau ganz wesentlich von ihrem Angestellten Desprez. Sie hielt Paris nicht für den Nabel der Welt, sie hielt sich selber dafür. Somit war ein Ort nur dann wesentlich, wenn sie selbst ihm eine Bedeutung verlieh. Oder ein Restaurant wichtig, weil sie darin saß und zu Mittag aß. Ihr Name war Esha Ness, woher auch immer sie diesen Namen hatte. Man ging allgemein davon aus, daß sie aus Rumänien stammte. Ihr Akzent ließ dies vermuten, zumindest behaupteten das die Rumänen, die sie kannten. Aber Henri Desprez gab nicht viel darauf, was andere sagten, erst recht, wenn sie Rumänen waren. Eher vermutete er, daß Esha Ness sich einen solchen rumänischen Akzent zugelegt hatte, um ihre »Biographen« auf eine falsche Fährte zu führen. In Richtung auf familiäre Bande, wo keine existierten.
Wenn jemand den Namen »Ness« hörte, dachte er meistens an zwei Dinge: einerseits an jenen braven, kleinen Polizisten aus »Chicago 1930« namens Eliot Ness und zweitens natürlich an das berühmte schottische Seeungeheuer. Nun, ein braver, kleiner Polizist war Esha Ness sicher nicht, dann schon sehr viel eher ein Ungeheuer. Aber wie haben Ungeheuer auszusehen? Vielleicht wird jenes Loch-Ness-Monster nur darum nicht entdeckt, weil man ständig nach einer ziemlich langen und recht unansehnlichen Seeschlange sucht, nach einer Bestie, und ständig jene hübsche, durch das Wasser schwebende Nixe übersieht.
Noch etwas: Auch Ungeheuer pflanzen sich fort. Und nicht wenige von ihnen betreiben Brutpflege.
Esha Ness hatte ein Baby auf dem Arm, einen fünf Monate alten Buben. Als sie sich jetzt erhob, um an die Salatbar zu treten, konnte man sehen, wie perfekt sie das Kind hielt, wie gut dieser Hosenscheißer auf der vorgeschobenen Hüfte saß und mit großen Augen die Welt studierte. Eine Welt aus bunten Salaten.
Ja, Esha Ness gehörte zu den Frauen, die ihre Kinder lieber selbst trugen, anstatt sie in sargähnliche Kinderwägen zu stopfen oder, noch schlimmer, an Großmütter und Kindermädchen weiterzugeben, also an Leute, denen man beim besten Willen nicht trauen konnte. Es war schon sehr merkwürdig, daß junge Mütter, die über ihre eigenen Mütter seit Jahr und Tag nur Schlechtes sagten, wahrscheinlich mit einigem Recht, plötzlich bereit waren, ihre heißgeliebten Babys an genau diese Frauen auszuliefern. Man konnte darum gar nicht anders, als eine solche Opferung des eigenen Kindes für ein Zeichen allergrößter Faulheit zu halten. Oder Unfähigkeit. Esha Ness aber, dieses attraktive Ungeheuer, war weder faul noch unfähig. Wirklich nicht.
Darum auch konnte sie sich, trotz Kind im Arm, ihren Salat selbst zusammenrechen. Niemand hätte gewagt, ihr eine solche Arbeit abnehmen zu wollen. Ihr Junge, er trug den Namen Floyd, beobachtete seine Mutter mit totaler Aufmerksamkeit, wie sie einen Haufen nach dem anderen auf ihren Teller stapelte. Mitten in dieser totalen Aufmerksamkeit schlief Floyd ein. Praktisch wie bei einer Hypnose, punktgenau.
Beinahe gleichzeitig, ohne ihr Kind jedoch angesehen zu haben, verlagerte Esha ihr Gewicht auf den rechten Fuß, sodaß Floyds Kopf auf ihre linke Brust nickte. Diese leichte Schräge behielt sie auch bei, als sie nun an ihren Tisch zurückkehrte. Der Lärm der Gespräche wurde augenblicklich heruntergefahren. Weniger, um Floyd nicht zu wecken, den kein Silvesterfeuerwerk jetzt aus seinem Schlaf hätte holen können, sondern aus Respekt vor Esha, auch wenn dieser Respekt der puren Angst entsprang. Denn obgleich diese Leute hier zu den engsten Freunden Eshas zählten, Privilegierte in der Art von Familienmitgliedern, änderte das nichts an deren enormer Furcht vor Esha. Selbst die Ausgelassenheit, die zuvor bestanden hatte, war Ausdruck dieser Furcht gewesen. Ein jeder bemühte sich, es Esha recht zu machen. Allerdings unsicher darüber, worin das Es-Esha-recht-Machen richtigerweise und günstigerweise jeweils bestand.
In dieser Hinsicht brauchte Henri Desprez keine Zweifel zu haben. Brauchte gar nicht erst zu hoffen, Esha Ness könnte die Nachricht, die er ihr überbringen würde, mit Achselzucken oder gar Desinteresse aufnehmen. Keinesfalls.
»Esha, entschuldige bitte!« unterbrach er die Frau mit den mittellangen, blonden Haaren und den dunkelbraunen, kräftigen
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