Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
in schönen großen, roten Ziffern, kein Marsrot, Erdbeerrot: 261016.
»Eine Telefonnummer«, scherzte Vartalo. »Eine Pariser Nummer, versteht sich.«
Niemand wußte, was diese Zahlenreihe wirklich zu bedeuten hatte. Stransky jedoch, als Wissenschaftler auch die Kleinstteile schätzend, bemerkte am Rand der Verschalung eine winzige Plakette, auf welcher neben diversen Codes auch die Jahreszahl 1984 eingraviert war.
»Gott, das war eine wilde Zeit«, meinte Vartalo.
»Wo?« fragte Steinbeck, die damals in Wien gelebt hatte und diese Jahre als das Gegenteil von wild in Erinnerung hatte. Weshalb ihr auch manchmal der Gedanke kam, daß die Mitte der Achtzigerjahre einmal wie Perioden des Mittelalters in Verdacht geraten würden, nie existiert zu haben.
Vartalo erklärte, er sei vierundachtzig in Südafrika gewesen.
»Dort hätten Sie auch bleiben sollen.«
Das war eine Gemeinheit. Aber diese Gemeinheit stammte weder von Stransky noch von Steinbeck.
»Was?« Vartalo wandte sich um. Er konnte gerade noch jenen kleinen, drahtigen Franzosen namens Desprez erkennen, bevor eine Kugel mitten auf sein Gesicht zuraste und ihm auf ewig die Sicht versperrte.
15
Satanisch
Sommer 1985, Honolulu, Oahu, Hawaii.
Henri Desprez trat hinaus auf den Balkon. Das Sonnenlicht fuhr wie ein wütender Waschbär in seine Augen. Er hielt sich die rechte Hand vors Gesicht, mit der anderen griff er in seine Brusttasche und zog eine Sonnenbrille hervor, die er aufklappte und sich an der schützenden Hand vorbei vor sein Augenpaar setzte. Was nichts an der Notwendigkeit änderte, den Kopf zu senken. Desprez sah hinunter auf den Strand, Waikiki Beach, allein der Name hörte sich wie eine schlechte Persiflage an. Da unten tummelten sich Massen von Menschen, die zwei Dinge ignorierten, die Gefahren der Sonne und die Gefahren des Wassers. Menschen in Badehosen und Badeanzügen waren das Letzte. Waren das überhaupt noch Menschen? Dieses öffentliche Entblößen des Körpers, ganz oder halb, egal, symbolisierte den totalen Einbruch der Zivilisation. Denn man mußte sich ja fragen, wieso eine Entwicklung von den stark behaarten Vormenschen bis hin zum vernünftig und elegant gekleideten spätromantischen Individuum stattgefunden hatte, wenn die Leute nun begannen, als lächerliche, ölverschmierte Nackedeis im Licht einer nichts mehr beschönigenden Sonne Strände zu bevölkern, die so was nicht verdienten, die Strände.
Aber darum war er nicht hier, um das Strandgesindel zu verteufeln. Er hatte einen Auftrag zu erledigen, wie immer, wenn er gezwungen war, Paris zu verlassen. Die Angelegenheit erwies sich als ausgesprochen heikel. Die Weisung stammte von ganz oben. Weiter oben gab’s gar nicht, wenn man den lieben Gott mal aus dem Spiel ließ. Wobei es Desprez gefiel, wie Monsieur Mitterrand seit fünf Jahren verfuhr. Für einen Sozialisten war das gar nicht schlecht. Endlich ein Mann, der nicht ständig herumlavierte, der nicht dauernd sich und sein Land lächerlich machte, der ein historisches Bewußtsein besaß und den Begriff der Macht nicht wie ein Fleischklößchen betrachtete, das man mit bloßen Händen aus einer heißen Suppe zu ziehen hatte. Dieser Mann war vom ersten Moment an als ein lebendes Denkmal aufgetreten. Und das, was er unternommen hatte und noch unternehmen würde, bedeutete nichts anderes, als um dieses Denkmal herum kräftige Leuchtkörper aufzustellen. Eine Vorgangsweise, die Desprez als sehr viel besser für die Nation empfand, als sich in Fleischklößchenkleinmut zu üben.
Natürlich war es nicht so gewesen, daß Desprez’ Vorgesetzter erklärt hatte, Monsieur le President persönlich würde anordnen, diesem verdammten Fotografen das Lebenslicht auszuknipsen und allen, denen sich der Fotograf anvertraut hatte. Natürlich wurde das nicht so gesagt. Allerdings wußte Desprez die verbalen Finessen seines Chefs zu deuten. Oder auch bloß, wie dieser seinen Mund krümmte oder eben nicht krümmte.
Genaueres hatte Desprez erst erfahren, nachdem er auf Réunion gelandet war und man ihn von dort auf die kleine Insel Saint Paul brachte. Wo er dann so ziemlich ins Staunen geriet. Nie und nimmer wäre er auf die Idee gekommen, sein Land könnte planen, ein bemanntes Raumschiff auf den Mars zu schicken, die ungeliebte ESA links liegend lassend, während die Russen gerade dabei waren, kindische Weltrekorde im Langzeit-um-die-Erde-Fliegen aufzustellen und die Amerikaner bezüglich Mars keine gewagteren Visionen hatten, als
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