Lilly unter den Linden
mir keineswegs sicher, ob dies auf Pascal wirklich zutraf. Aber auf Meggi verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht. »Solche Leute kennst du? Toll!«, meinte sie bewundernd. Dann sah sie auf das oberste Foto und bemerkte: »Und die? Die kenne ich doch. Die war auf der Beerdigung.«
Beim Wort Beerdigung zuckte sie leicht zusammen und ließ einen schnellen Blick über mich huschen, als wolle sie um Verzeihung dafür bitten, dass es ihr entschlüpft war. Ich nahm ihr das Foto aus der Hand. »Meine Tante Lena. Mamis Schwester.«
Pascal hatte das Bild am Elbufer auf der Terrasse von Baurs Park gemacht. Lena und ich lehnten oben über der Mauer und blickten zu ihm hinunter, unsere Arme berührten sich und unsere Haare wehte der Wind ineinander, sodass man kaum noch unterscheiden konnte, welche der fliegenden Strähnen zu wem gehörten …
»Sie hat dich gern«, sagte jemand neben mir. Meggi war nah an mich herangerückt und schaute mit mir auf das Bild.
Einen Augenblick war ich wie blind von Tränen. »Wir haben uns gleich gemocht. Dabei hatten wir uns noch nie gesehen«, brachte ich heraus.
»Wieso denn das?«
»Weil sie aus der DDR ist. Sie durfte nie raus und meine Mutter nie rein, weil sie mit neunzehn abgehauen ist.«
»Oooh!«, machte Meggi. »Jetzt verstehe ich! Darum wolltest du … Mensch, das ist ja traurig. Die DDR …! Deine arme Tante!«
»So arm ist sie gar nicht«, hörte ich mich sagen, obwohl ich erst gestern noch genau das Gleiche gedacht hatte. »Sie ist so … so lebendig … so schlimm kann’s da drüben gar nicht sein.«
»Warum müssen sie die Leute dann einsperren, damit sie dableiben?«, gab Meggi zurück und begann die übrigen Fotos anzusehen.
»Lena müssten sie gar nicht einsperren. Die will überhaupt nicht weg. Höchstens mal zu uns«, sagte ich nachdenklich und setzte eher für mich selbst hinzu: »Früher …«
»Und deine Mutter?«, fragte Meggi.
»Mein Vater hat sie zu sich rübergeholt. Und dann ist er bei einer Bergtour abgestürzt … da war ich gerade auf der Welt, und sie planten ihre Hochzeit …«
Meggi blickte wieder auf. »Oje«, sagte sie bestürzt. Als sie sich überwand, an meine Tür zu klopfen, hatte sie bestimmt nicht damit gerechnet, auch noch mit einem zweiten Todesfall in meiner Familie konfrontiert zu werden.
Aber auch mit einer Geschichte, auf die ich stolz war! Meine Stimmung hob sich beträchtlich, als ich ein weiteres Foto vom Nachttisch nahm und Meggi zeigte. »Hier, das sind meine Eltern in Ostberlin. Da haben sie sich immer getroffen, und von dort aus sind sie auch über die Grenze, damals in der Nacht … eine Freundin von meinem Vater hat Mami ihren Pass gegeben und dann so getan, als wäre sie beklaut worden.«
»Mann!«, entfuhr es Meggi. »Die hatte ja Nerven!«
»Teresa ist Schauspielerin! Die mussten ihr einfach glauben!«, sagte ich triumphierend.
Für einen kurzen Moment sah ich alles wie in einem Film vor mir: die schlecht beleuchtete Toilette der Gastwirtschaft, in der Teresa meine Mutter frisierte, bis sie aussah wie das Foto im Pass, die Scheinwerfer am Grenzübergang, als meine Eltern Hand in Hand in die Freiheit gingen, wenig später Teresas großer Auftritt vor den Grenzbeamten … so hatte ich es mir immer ausgemalt, wieder und wieder, für mich war es die Geschichte schlechthin …
»Und deshalb bist du jetzt hier und deine Tante dort«, sagte Meggi nüchtern.
Ich schwieg. Sie hatte Recht. Deshalb war ich jetzt hier und Lena dort, unerreichbar wie früher. Mit einem Unterschied. Jetzt war Mami tot. Jetzt war ich allein …
»Hast du nicht Lust, mich mal zu Hause zu besuchen?«, fragte Meggi. »Ich habe zwei Katzen und es gibt im Keller einen Pool.«
»Und warum bist du dann im Internat?«
»Meine Eltern arbeiten bei der EU in Brüssel – zwei Jahre noch. Aber sie kommen jedes Wochenende nach Hause, und die Woche über haben wir eine Haushälterin.«
»Wir könnten auch zu mir fahren«, sagte ich zögernd. »Wir hätten die Wohnung ganz für uns, es ist niemand da … außer vielleicht Pascal, und der stört uns nicht.«
»Wow, wirklich? Warte mal … morgen Nachmittag hab ich Ballett, Donnerstag Handball … aber Mittwoch geht!«, schlug Meggi sofort vor.
»Abgemacht«, sagte ich schon fast wieder froh. »Mittwoch Nachmittag bei mir …«
Ich konnte Meggis Besuch kaum erwarten. Am nächsten Tag fuhr ich in die Stadt, kaufte in einer kleinen Teestube Tee, Kandisstäbchen und feine Plätzchen und
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