Lily und der Major
einen überraschten
Schrei aus, auf den ihre Mutter aus der Küche herbeieilte. Bethesda Sommers
griff grob mit ihrer großen abgearbeiteten Hand in Lilys Haar und zerrte sie
mit aller Kraft von ihrer Tochter fort.
»Du böses Kind!« kreischte sie. »Es
war das Werk des Teufels, dich hierherzubringen!«
Tränen der Angst und Qual hatten in
Lilys Augen gebrannt, aber sie drängte sie tapfer zurück. Nicht eine Träne
vergoß sie, nicht einmal dann, als Mrs. Sommers sie in die Küche schleppte und
mit einem Holzlöffel verprügelte.
Stunden später lag Lily in ihrem
Zimmer unter dem Dach auf dem Bett, ihr Körper wund und blau von den Schlägen,
als Isadora mit ihrem Abendessen kam. Es bestand aus einem kleinen Glas Milch
und einem Stück Brot.
»Rupert ist mit Papa in die Stadt
gefahren«, erzählte das Kind zufrieden. »Er weiß nicht einmal, daß du hier oben
bleiben mußt, bis Mama nicht mehr böse auf dich ist.« Sie brach ab und
lächelte. »Wie ich schon sagte, niemand denkt an dich – außer mir.«
Tränen blendeten Lily, als sie die
bitteren Erinnerungen verdrängte und in die Gegenwart zurückkehrte. Resolut
griff sie nach einem weiteren Blatt Papier und wählte eine Stadt auf der Liste,
deren Namen sie aus einem von Ruperts Geographiebüchern abgeschrieben hatte.
Dann begann sie einen neuen Brief.
Nur mit seinen Hosen bekleidet, lag Caleb ausgestreckt
auf seinem Hotelbett und dachte an Lily. Wie glücklich sie ausgesehen hatte,
als sie ihm von ihrem Traum erzählte, ihr Land zu bestellen und sich damit die
ersehnte Unabhängigkeit zu schaffen.
Unwillkürlich lächelte er dabei vor
sich hin. Sie schien wirklich zu glauben, daß sie ihr Land allein bearbeiten
konnte. Wie naiv sie war!
Doch Calebs Belustigung verflog, als
er bedachte, wie bald die schwere Arbeit Lily hart und zynisch machen und wie
schnell sie ihre Illusionen verlieren würde. In einem Jahr würde sie eine
verhärmte, abgearbeitete Frau sein, mit rauhen, geröteten Händen und leeren
Augen. Irgendein Mann würde kommen und sie heiraten, und eine Zeitlang würde es
ihr besser gehen. Zumindest hätte sie dann das Gefühl, zu jemandem zu gehören.
Aber dann würden die Kinder kommen,
eins nach dem anderen, bis es zu viele wären, und Lily würde sterben und ihre
Träume ins Grab mitnehmen. Und der Mann, der sie verbraucht hatte, würde eine
neue Braut auf die Farm bringen, und der bittere Kreislauf nahm von neuem
seinen Anfang.
Die Sprungfedern ächzten, als Caleb
sich aufrichtete. Im allgemeinen neigte er nicht zu solch düsteren Visionen,
aber die Begegnung mit Lily im Speisesaal des Hotels hatte sein Denken
gründlich auf den Kopf gestellt. Und nun war er besessen von dieser Frau,
wollte sie beschützen, sie in den schönsten Kleidern sehen und sie für das
ausgestandene Leid entschädigen.
Und mit ihr ins Bett gehen.
Er hatte sogar daran gedacht, nach
Hause zurückzukehren und sich seiner Familie zu stellen.
Caleb legte sich wieder zurück und
schloß die Augen. In Gedanken kehrte er auf die ausgedehnte Farm in
Pennsylvania zurück, auf der er aufgewachsen war ...
Er war wieder elf Jahre alt und
verbarg sich im Heuschober, kämpfte gegen das trockene Schluchzen an, das
seinen jungen Körper erschütterte. Sein Vater war sechs Monate zuvor gestorben,
und nun war auch seine Mutter tot – das hatte der Arzt Caleb gerade gesagt.
Und alles nur wegen dieses Babys!
Caleb wünschte, es wäre anstelle seiner Mutter gestorben.
»Caleb?« Die Stimme gehörte seinem
älteren Bruder. Mit einundzwanzig war Joss bereits ein Mann, und er führte die
Farm, seit dem Tag, an dem Aaron Halliday bei einem Unfall ums Leben gekommen
war. »Komm, Junge – ich weiß, daß du hier irgendwo steckst!«
Caleb schluckte. Er fürchtete sich
zu antworten, fürchtete sich, zu weinen und nie wieder aufhören zu können.
Joss rief noch einmal seinen Namen,
und Caleb preßte die Augen zu, während er ein stummes Stoßgebet zum Himmel
schickte. Laß ihn sagen, daß es nur ein Irrtum war. Laß ihn sagen, daß Mama
noch lebt.
Die hölzernen Sprossen der Leiter
ächzten, und als Caleb die Augen öffnete, stand Joss vor ihm. Sein
gutgeschnittenes Gesicht war naß vor Schweiß oder vielleicht waren es Tränen –
und er trug die schlichte Kleidung eines Farmers. Wie Caleb, so hatte auch er
bernsteinfarbene Augen und dunkelblondes Haar, obwohl es bei ihm lockig war
statt dicht und glatt.
»Du machst es mir nicht leicht«,
bemerkte er seufzend, als er sich zu
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