Lily und der Major
Gottes
Namen, Caleb – so hilf mir doch! Ich habe niemanden außer dir.«
Calebs Gedanken rasten. Er wußte,
daß die Gefangenenlager eine Vorstufe zur Hölle waren, daß es dort nie genug zu
essen gab und keine Medizin. Aber er hätte seinen Bruder nicht erschießen können,
ohne sich danach selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und Caleb wollte
leben.
Er sah, daß sein Sergeant zu ihnen
herüberkam, und fuhr zusammen, als er die einzige verbliebene Hand seines
Bruders auf seinem Arm spürte. »Wir haben einen Gefangenen hier«, rief Caleb
mit fester Stimme, fuhr sich jedoch mit dem Ärmel über das Gesicht, um seine
Tränen abzuwischen.
»Geh zur Hölle für deinen Verrat!«
zischte Joss. »Du verdammter Feigling!«
Der Sergeant hockte sich neben Joss
und verzog das Gesicht, als er die Verwundung sah. »Der wird es nicht lange
machen«, meinte er. »Aber wir sollten ihn trotzdem hinter die Kampflinie
bringen.«
Obwohl er halb bewußtlos war, hörte
Joss nicht auf zu fluchen, aber das war bei einem gefangenen Rebellen nichts
Ungewöhnliches. Nichts verriet dem Sergeanten, daß die beiden Männer – der
eine Freund, der andere Feind –, Brüder waren. Es hätte ihn vermutlich auch gar
nicht interessiert, denn es war Krieg, und da besaßen solche Dinge keine
Bedeutung mehr.
Caleb zog Joss auf die Füße, legte
dessen unverletzten Arm um seine Schultern und schleppte ihn hinter die
Kampflinie, an einer Unzahl von Toten in blauen und grauen Uniformen vorbei.
Bevor Joss ins Sanitätszelt gebracht
wurde, wo von beiden Fronten Männer unter unsagbaren Qualen schrien und stöhnten,
erwachte Joss aus seiner Ohnmacht und schaute Caleb in die Augen. »Judas«,
flüsterte er und spuckte seinem Bruder ins Gesicht.
Hier wachte Caleb auf, aber er
glaubte, den Speichel seines Bruders noch auf seiner Wange zu verspüren, und
obwohl er wußte, daß es nur Einbildung war, wischte er ihn fort.
Auch andere Elemente seines Traumes
blieben. Sein Magen war verkrampft, und er schwitzte trotz des kühlen Abends.
Seine Verzweiflung war real und tief wie immer. »Verdammt, Joss«, flüsterte er,
»laß mich in Ruhe.«
Er richtete sich im Bett auf und
wünschte, Lily wäre bei ihm. Mit ihr an seiner Seite hätte er Trost gefunden.
Caleb fuhr sich mit den Fingern
durch das Haar. Er mußte nach Fox Chapel fahren und mit Joss reden. Erst dann
konnte er wieder seinen Platz in der Familie einnehmen. Er wollte seinen
Anteil an dem Land und an den Pferden.
Und er wollte Lily bei sich haben,
heute und immer.
Lily stand schon früh am nächsten
Morgen auf und
bereitete aus Gewohnheit Ruperts Frühstück zu. Er stand neben ihr vor dem
Spiegel und richtete seinen Kragen, als es energisch klopfte.
Lily rechnete mit Caleb, aber es war
eine hübsche blonde Frau, die in die Küche kam.
»Wer ist das, Rupert?« fragte sie
mit einem unfreundlichen Blick auf Lily.
Rupert lachte. »Nur meine Schwester.
Lily, darf ich dir Winola Ferring vorstellen?«
»Hallo«,
sagte Lily zurückhaltend.
Winola nickte kurz. »Die Schule
fängt gleich an«, wandte sie sich in einem klagenden Ton, der Lily auf die
Nerven ging, an Rupert. »Wir werden zu spät kommen.«
Rupert wandte sich stolz an Lily.
»Winola unterrichtet die erste und die zweite Klasse.«
Lily lächelte erzwungen. »Dann
arbeitet ihr also zusammen.«
»Ja«, stimmte Winola schon etwas
freundlicher zu.
»Wie nett.« Lily freute sich für
Rupert. Er war zu lange allein gewesen, er brauchte eine Frau.
Winola nahm besitzergreifend Ruperts
Arm. »Ich freue mich, daß wir uns kennengelernt haben, Miss Sommers«, sagte sie
und zog Rupert zur Tür.
»Chalmers«,
berichtigte Lily. »Miss Chalmers.«
Winolas blaue Augen wurden groß. »Du
hast gesagt, sie wäre deine Schwester«, sagte sie in anklagendem Ton zu Rupert.
»Meine
Eltern haben Lily adoptiert, als sie sechs Jahre war«, erklärte Rupert schnell.
»Sie wird doch sicher nicht lange
bleiben, oder?« fragte Winola mit einem hoffnungsvollen Blick auf Lily.
Lily hätte fast gelacht. »Keine
Angst, Winola«, erwiderte sie.
»Ich bleibe
nicht lange.«
Winola maß sie noch einmal mit einem langen Blick, dann zog sie Rupert aus der Tür.
Es war ein schöner, sonniger Tag,
und so machte sich Lily auf den Weg zur Bank, um ihren Scheck auf ein Konto
einzuzahlen. Danach suchte sie einen Laden auf, der für seine große Auswahl an
Werkzeug und Haushaltswaren bekannt war, und bestellte einen Pflug, ein Fäßchen
Nägel und einen
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