LIMIT - reich, gewissenlos, tot
sich um den dürren, knorrigen Baumstamm. Unter ihr lösten sich bereits Steine und Eiszapfen und rauschten in die Tiefe.
»Die Wurzeln lösen sich«, sagte sie und fing an zu weinen.
»Halt still!«, rief er. »Ich komme gleich wieder.«
»Nein, Dad!«, kreischte sie ihm hinterher. »Geh nicht! Lass mich nicht allein!«
Hennessy jedoch balancierte über die Felsnase wie ein Hochseilartist. Er packte Cobbs Maschinenpistole, holte den Ladestreifen heraus, warf ihn fort und legte den frischen ein. Dann eilte er zwischen die Bäume und suchte nach einem geeigneten Ast. Als er einen entdeckte, der ihm die richtige Länge zu haben schien, trennte er ihn mit einem gezielten Schuss vom Stamm.
Dann packte er ihn und zerrte ihn auf den Felsvorsprung.
»Hailey?«, schrie er.
»Beeil dich!«, schrie sie. »Schnell!«
Hennessy löste seinen Gürtel aus der Hose. Er schlang ihn um den obersten Zweig am Ast, packte den Gürtel und stieß den Ast über den Rand des Felsplateaus.
»Greif danach«, rief er. »Kriegst du ihn zu fassen?«
»Tiefer!«, rief sie.
Im selben Moment hörte Hennessy ein Krachen und Splittern.
»Dad! Die Wurzel bricht! Weiter runter!«
Hennessy wusste, dass er Gefahr lief, selbst in den Abgrund zu stürzen. Aber es war ihm egal. Ohne seine Tochter wollte er ohnehin nicht weiterleben. Er würde sie entweder retten oder beim Versuch mit draufgehen.
Hennessy verkeilte die Schuhspitzen an einem vorspringenden Stein und schob sich noch weiter nach vorn, sodass der Ast einige Zentimeter tiefer rutschte. Ein lautes Knacken übertönte den Wind. Einen schrecklichen Moment lang hörte und fühlte er nichts. Dann spürte er, wie der Ast schwer wurde und ihn nach vorn zog. »Ich hab ihn!«, hörte er Hailey schreien.
Haileys ganzes Gewicht hing am Ast. Beinahe hätte sie ihn in den Abgrund gerissen. Er aber stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Der Mond verschwand hinter einer Wolke, und für einen Sekundenbruchteil stellte er sich vor, wie es wäre, wenn immer Dunkelheit herrschte.
Dann spürte er ein Rucken im Ast, als Hailey sich über die Felswand nach oben arbeitete. Sekunden später sah er ihr Gesicht über der Kante auftauchen. Sie grinste ihm entgegen.
Da knickte der Ast, an dem sie hing, doch im selben Moment schoss Hennessys Hand vor und erwischte Haileys Handgelenk.
Hennessy zog seine Tochter auf das Plateau und in seine Arme. Er umarmte sie so fest, dass er Angst hatte, sie zu zerdrücken. »Was kann es Schöneres geben?«, fragte er in die Dunkelheit. »Gar nichts.«
Mittwoch, 3 . Januar
41
Mickey Hennessy spürte jeden schmerzenden Muskel im Körper, als er im Deaconess Hospital in Bozeman um ein Uhr nachmittags den Flur entlangging. Er trug Jeans, Stiefel, Rollkragenpullover und Wolljacke und nahm etwas verdutzt zur Kenntnis, dass er auf dasselbe Zimmer zusteuerte, in dem er sich von der Schusswunde erholt hatte. Lag der Überfall nur sechzig Stunden zurück? Waren erst vierzehn Stunden vergangen, seit der Polizeihubschrauber Hailey und ihn gerettet hatte?
Der ganze Zwischenfall im Jefferson Club hatte nur knappe drei Tage gedauert, aber in seiner Erinnerung erschienen sie wie Wochen, ja Monate. Er hatte den Eindruck, als würde sein Zeitempfinden, sein ganzes Selbst, von einem Wirbelsturm erfasst, bis er um die Ecke bog, ins Zimmer schaute und sich augenblicklich beruhigte.
Bridger schlief im Bett gleich neben der Tür. Sein Bein war bis zur Hüfte bandagiert und hing an einem Flaschenzug über dem Bett. Cobbs Projektil hatte ihm den Oberschenkel zertrümmert und die Arterie durchtrennt. Connor und Hailey hatten ihrem Bruder mit ihrem Einsatz zweifellos das Leben gerettet.
Auf einem Stuhl zwischen Bridgers und Haileys Bett saß Connor. Er war eingenickt. Hailey schlief ebenfalls. Sie hatte Erfrierungen an den Füßen und der linken Hand davongetragen. Auch einige Stellen auf Wangen und Stirn waren mit Wundsalbe behandelt worden.
Auch Hennessy hatte erfrorene Stellen im Gesicht und auf dem Hals und fühlte, wie sie brannten, als er das Zimmer betrat. Die Schwester stand auf und stieß dabei an Haileys Bett.
Seine Tochter schlug die Augen auf, entdeckte ihn und lächelte: »Hi, Dad.«
»Schsch«, zischte er und ging zu ihr hinüber. »Lass sie schlafen.«
Connor fuhr aus dem Schlaf und sagte: »Ich bin doch wach.« Er stand auf und umarmte seinen Vater. Hailey legte die verbundene Hand auf Hennessys Arm.
Vor dem Überfall hatten sich die drei nur widerstrebend zu einer
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