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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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sicher?«
    »Ich hab nichts anderes gesehen.«
    »Wieso kommst du dir dann dämlich vor?«
    »Weil – ach, das gehört eigentlich nicht hierher.« Und schon erzählte er Hanna die ganze Geschichte, einfach aus dem Bedürfnis heraus, sie loszuwerden.
    »Vielleicht war's einer von diesen Blitzen, die wir hier alle sehen«, sagte Hanna.
    Julian wusste, worauf er anspielte. Hochenergetische Teilchen, Protonen und schwere Atomkerne, durchdrangen gelegentlich die Panzerung von Raumschiffen und Raumstationen, reagierten mit Atomen in der Netzhaut und lösten kurze Lichtblitze aus, die auf der Retina wahrgenommen wurden, allerdings nur bei geschlossenen Augen. Mit der Zeit gewöhnte man sich daran, bis es einem kaum noch auffiel. Hinter der Regolithpanzerung des Schlafzimmers traten sie praktisch nicht auf. Im Wohnraum allerdings –
    Funaki stellte den Cocktail vor ihn hin. Julian starrte auf das Glas, ohne es richtig wahrzunehmen.
    »Ja, vielleicht.«
    »Du hast dich eben geirrt«, sagte Hanna. »Wenn du meinen Rat willst, solltest du bei Lynn Abbitte leisten und die Sache vergessen.«
    Doch Julian konnte sie nicht vergessen. Irgendetwas stimmte nicht, passte nicht ins Bild. Er wusste genau, dass er etwas gesehen hatte, nicht nur den Zug. Etwas Subtileres beschäftigte ihn, eine entscheidende Kleinigkeit, die bewies, dass er nicht fantasierte. Es gab noch einen zweiten inneren Film, der alles erklären würde, wenn es ihm nur gelänge, ihn seinem Unterbewusstsein zu entreißen und ihn sich anzuschauen, ganz genau hinzuschauen, um zu begreifen, was er bereits gesehen und nur nicht kapiert hatte, ob ihm die Erklärung nun gefallen würde oder nicht.
    Er musste sich erinnern.
    Erinnere dich!
     

JUNEAU, ALASKA, USA
     
    Loreena Keowa war irritiert. Noch am Tag der Bootsfahrt hatte Palstein zugestimmt, das Filmteam nachkommen zu lassen, und eine Performance kraftvoller O-Töne abgeliefert, ohne dass sich bei ihr jenes Gefühl von Vertrautheit einstellen wollte, wie sie es sonst zu Gesprächspartnern entwickelte. Inzwischen wusste sie, dass Palstein die kristalline Ästhetik der Zahlen liebte, mit deren Hilfe er alles und jedes, sich selbst eingeschlossen, einer Proportionierung der reinen Vernunft unterwarf, ohne es deswegen im persönlichen Umgang an Emotionalität fehlen zu lassen. Er schätzte die Klangmathematik eines Johann Sebastian Bach, den fraktalen Minimalismus Steve Reichs, war andererseits fasziniert von der Auflösung aller Strukturen und erzählerischen Bögen in der Musik György Ligetis. Er besaß einen Steinway-Flügel, spielte gut, wenn auch etwas mechanisch, allerdings keine Klassik, wie Keowa erwartet hätte, sondern Beatles, Burt Bacharach, Billy Joel und Elvis Costello. Er besaß Drucke von Mondrian, aber auch ein wild verzweifeltes Original von Pollock, das aussah, als habe sein Schöpfer die Leinwand mit Farbe angeschrien.
    Gespannt auf Palsteins Frau, hatte Keowa schließlich die Hand einer huldvollen Erscheinung geschüttelt, die sie augenblicklich vereinnahmte, eine Viertelstunde lang durch selbst angelegte japanische Gärten schleppte und mitunter ohne ersichtlichen Grund glockenhell auflachte. Frau Palstein war Architektin, wie sie erfuhr, und hatte den größten Teil der Anlage entworfen. Bestrebt, sich die Währung ihrer neu erworbenen Bildung im Small Talk verzinsen zu lassen, fragte Keowa sie nach Mies van der Rohe und erntete ein geheimnisvolles Lächeln. Plötzlich behandelte Frau Palstein sie wie eine Verschworene. Van der Rohe, oh ja! Ob sie zum Abendessen bleiben wolle? Noch während sie erwog, zuzusagen, schellte das Telefon der Dame, die daraufhin in einem Gespräch über Migräne verloren ging und Keowa darüber so vollständig vergaß, dass sie sich ihren Weg zurück ins Haus suchte und, weil Palstein keine ähnliche Einladung aussprach, ohne Abendessen abreiste.
    Danach, in Juneau, hatte sie sich eingestanden, dass sie den Ölmanager mochte, seine Freundlichkeit, seine guten Manieren, seinen melancholischen Blick, unter dem sie sich seltsam entblößt fühlte, sodass er ihr zugleich ein wenig unheimlich war – und doch blieb ihr der Mann auf eigentümliche Weise fremd. Anstatt sich ihrer Reportage zu widmen, hatte sie sich in die Recherche gestürzt, war von Texas zuerst nach Calgary, Alberta geflogen und dort unangemeldet der Polizei ins Revier geschneit. Mit ihrem Indianergesicht und ihrem eigenartigen Charme schaffte sie es immerhin bis ins Büro des Lieutenant, der versprach,

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