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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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schmutzigweißen Kästen der Klimaanlagen im Verputz. Ein zerfetztes Transparent flatterte unlustig im Wind, auf dem die Hausbewohner den sofortigen Baustopp des Maglev forderten, einer weiteren Trasse, die unmittelbar vor ihrer Haustüre vorbeiführen würde und deren Stützpfeiler schon die Straße überragten. Ließ man das klägliche Zeugnis des Aufbegehrens außer Acht, unterschied sich das Gebäude in nichts von Nummer 1274 oder 1278.
    Im vierten Stock der Nummer 1276 lebte Chen Hongbing.
    Die Wohnung umfasste auf 38 Quadratmetern einen Wohnraum mit Schrankwand, Essecke und Schlafcouch, ein weiteres Schlafzimmer, ein winziges Bad und eine nur unwesentlich größere, zum Esstisch hin offene Küche. Die Diele fehlte, stattdessen verdeckte ein Paravent die Eingangstür seitlich und schuf so ein bisschen Intimität.
    Bis vor Kurzem jedenfalls.
    Nun lehnte er zusammengeklappt an der Wand, sodass der Eingangsbereich zur Gänze überschaubar war. Xin hatte es sich auf dem Schlafsofa bequem gemacht, abseits des Stuhls, auf dessen Kante Chen Hongbing saß wie in Kontemplation versunken, groß, eckig, kerzengerade. Seine Schläfen glänzten im Licht, das durch die rückwärtige Fensterfront einfiel und sich in winzigen Schweißtropfen brach, die seine straffe Haut bedeckten. Xin wog die Fernbedienung zur Steuerung des automatischen Gewehrs in seiner Hand, einen federleichten, flachen Bildschirm. Er hatte dem alten Mann erklärt, jede hektische Bewegung würde seinen Tod zur Folge haben. Tatsächlich war die Automatik noch gar nicht aktiviert. Xin wollte nicht das Risiko eingehen, dass der Alte vor lauter Nervosität sein eigenes Ableben herbeiführte.
    »Vielleicht sollten Sie mich als Geisel nehmen«, sagte Chen in die Stille hinein.
    Xin gähnte. »Habe ich das nicht schon?«
    »Ich meine, ich – könnte mich für längere Zeit in Ihre Gewalt begeben. So lange, bis Sie in Yoyo kein Risiko mehr sehen.«
    »Und was wäre damit gewonnen?«
    »Meine Tochter würde überleben«, antwortete Chen heiser. Es sah merkwürdig aus, wie er bar jeder Gestik Worte von sich gab, bemüht, selbst die Lippenbewegungen auf das Nötigste zu reduzieren.
    Xin tat, als müsse er darüber nachdenken.
    »Nein. Sie wird überleben, sofern sie mich überzeugt.«
    »Ich bitte Sie einzig um das Leben meiner Tochter.« Chen atmete flach. »Alles andere ist mir gleich.«
    »Das ehrt Sie«, sagte Xin. »Es rückt Sie in die Nähe von Märtyrern.«
    Plötzlich meinte er den Alten lächeln zu sehen. Unmerklich nur, doch Xin hatte einen Blick für derlei Kleinigkeiten.
    »Was erheitert Sie so?«
    »Dass Sie die Sachlage verkennen. Sie glauben, mich töten zu können, aber es ist nicht viel übrig, das man töten kann. Sie kommen zu spät. Ich bin bereits gestorben.«
    Xin setzte zu einer Antwort an, dann betrachtete er den Mann mit neuem Interesse. Im Allgemeinen legte er wenig Wert auf den Privatkram anderer Leute, zumal wenn ihre Minuten gezählt waren. Plötzlich jedoch drängte es ihn zu wissen, was Chen damit gemeint hatte. Er stand auf und trat hinter das Stativ mit dem Gewehr, sodass die Waffe geradewegs seinem Bauch zu entwachsen schien.
    »Das müssen Sie mir erklären.«
    »Ich glaube nicht, dass es Sie interessieren wird«, sagte Chen. Er hob den Blick, und seine Augen waren wie zwei Wunden. Mit einem Mal hatte Xin das Gefühl, in den mageren Körper hineinschauen zu können und den schwarzen Spiegel eines Sees unter einem mondlosen Himmel zu erblicken. Tief am Grund erspürte er altes Leiden, Selbsthass und Ekel, vernahm er Schreien und Flehen, Rasseln und schlagende Türen, das Stöhnen der Resignation, dessen fades Echo sich fortpflanzte in endlosen, fensterlosen Gängen. Man hatte versucht, Chen zu brechen, viele Jahre lang. Xin wusste es, ohne es zu wissen. Mühelos erkannte er den Punkt der Zusammenziehung, konnte an Stellen rühren, wo Menschen am meisten verwundbar waren, so wie ein einziger Blick in die Augen des Detektivs gereicht hatte, um dessen Einsamkeit zu erkennen.
    »Sie waren im Gefängnis«, sagte er.
    »Nicht direkt.«
    Xin stutzte. Sollte er sich geirrt haben?
    »Auf alle Fälle waren Sie Ihrer Freiheit beraubt.«
    »Freiheit?« Chen erzeugte einen Laut zwischen Röcheln und Seufzen. »Was ist das? Sind Sie in diesem Augenblick freier als ich, da ich auf diesem Stuhl sitze und Sie vor mir stehen? Gibt Ihnen das Ding, das Sie auf mich gerichtet haben, Freiheit? Verlieren Sie Ihre Freiheit, wenn man Sie

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