Limit
Anzeichen jener symbiotischen Verbundenheit zu erkennen, die es mit sich brachte, dass Eheleute einander aus Rähmchen bei der Arbeit zusahen.
Ma Liping und glücklich verheiratet? Lächerlich.
Jerichos Blick fiel auf eine schmale, geschlossene Tür, die dem Schreibtisch gegenüberlag. Interessant, doch als Ma seinen Tee abstellte und sie öffnete, erhaschte er lediglich einen Blick auf Kacheln, ein Waschbecken und ein Stück Spiegel. Keine halbe Minute später kam der Mann wieder zum Vorschein, die Hände am Hosenschlitz, und Jericho musste zur Kenntnis nehmen, dass der vermeintliche Zugang eine Toilette war.
Warum überwachte Ma dann das verdammte Zimmer? Wen hoffte oder fürchtete er hier zu sehen?
Jericho seufzte. Eine Stunde lang fasste er sich in Geduld, wurde Zeuge, wie Ma, das Foto der Kette vor Augen, ein Sortiment mehr oder minder passenden Ohrschmucks zusammenstellte und das unverhoffte Auftauchen einer Kundin zum Anlass nahm, ihr ein Essgeschirr von bemerkenswerter Hässlichkeit anzudrehen. Er schaute Ma beim Polieren von Glaskaraffen zu und aß getrocknete Chilis aus einer Tüte, bis seine Zunge brannte. Gegen drei Uhr betrat die sogenannte Gattin den Laden. Vermeintlich unbeobachtet, im Stand ehelicher Vertrautheit, wie beide waren, hätte man erwarten sollen, sie einen Kuss, eine winzige Intimität austauschen zu sehen. Doch sie begegneten einander wie Fremde, sprachen einige Minuten lang miteinander, dann schloss Ma die Vordertür ab, drehte das Offen/Geschlossen-Schild um, und sie gingen gemeinsam ins Hinterzimmer.
Was folgte, bedurfte keines Tons.
Ma öffnete die Toilette, ließ seine Frau eintreten, äugte noch einmal wachsam in alle Richtungen und zog die Tür hinter sich zu. Jericho wartete gespannt, doch das Paar kam nicht wieder zum Vorschein. Nicht nach zwei Minuten, nicht nach fünf, auch nicht nach zehn. Erst eine halbe Stunde später stürmte Ma plötzlich heraus und in den Vorraum, wo jenseits der Eingangsverglasung eine Männergestalt sichtbar wurde. Wie gebannt starrte Jericho auf die halb offen gebliebene Toilette, versuchte in dem Spiegel Reflexionen auszumachen, doch die Stätte der Notdurft gab ihr Geheimnis nicht preis. Derweil hatte Ma den Ankömmling, einen stiernackigen, kahl geschorenen Kerl in einer Lederjacke, eingelassen, riegelte wieder ab und ging ihm voraus ins Hinterzimmer, wo beide sich auf den Abort empfahlen und darin verlustig gingen.
Erstaunlich. Entweder feierte das Trio infernal gern auf engem Raum, oder die Toilette war größer als gedacht.
Was trieben die drei?
Über anderthalb Stunden vergingen. Um zehn Minuten nach fünf materialisierten sich der Lederjackenträger und die Frau wieder im Büro und gingen nach vorne. Diesmal war sie es, die den Verkaufsraum entriegelte, den Glatzkopf nach draußen ließ und ihm folgte, wobei sie die Tür erneut sorgsam verschloss. Ma selbst ließ sich nicht blicken. Ab 18.00 Uhr, schätzte Jericho, würde sein Trachten auf Kunden und Umsatz gerichtet sein, explizit auf die Komplettierung von Halsschmuck durch Ohrringe, bis dahin ging der Kerl Gott weiß welchen Ungeheuerlichkeiten nach. Inzwischen glaubte er verstanden zu haben, welchem Zweck die zweite Kamera, die das Büro überwachte, diente. Darauf bedacht, dass niemand zusah, wenn er in die wundersame Welt des Aborts eintauchte, wollte Ma ebenso vermeiden, dass man ihn bei seiner Rückkehr erwartete. Wahrscheinlich lieferte die Kamera auch ein Bild in die Toilette.
Jericho hatte genug gesehen. Er musste den Mistkerl unvorbereitet erwischen, doch war Ma unvorbereitet? War er es jemals?
Rasch ließ er das Handy in seine Jacke gleiten, stieg aus und legte die wenigen Minuten bis zum Fabrikgebäude zu Fuß zurück, während er sich einen Schlachtplan zurechtlegte. Vielleicht hätte er besser daran getan, die lokalen Behörden zur Unterstützung herbeizurufen, doch sie würden sich rückversichern. Wenn sie seine Nachforschungen blockierten, konnte er ebenso gut zurück nach Shanghai fahren, und Jericho war fest entschlossen, dem Mysterium des Hinterzimmers auf den Grund zu gehen. Seine Waffe, eine ultraflache Glock, ruhte sicher verwahrt über seinem Herzen. Er hoffte, keinen Gebrauch davon machen zu müssen. Zu viele Jahre in Schweiß und Blut getauchtes Dasein lagen hinter ihm, zu viel operative Frontarbeit, in deren Verlauf er, seine Gegner oder beide notärztlich hatten behandelt werden müssen. Das Jochbein am Straßenpflaster, der Geschmack von Dreck und
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